Martin Schulz empfängt die Besucher höchstpersönlich. An der gläsernen Eingangstür der SPD-Zentrale begrüßt der Chef der Sozialdemokraten erst den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer, auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) stößt dazu. Dann kommt die Kanzlerin. „Herzlich willkommen im Willy-Brandt-Haus“, sagt er. „Ist Ihnen ja bekannt, ne?“ Ja, ist ihr bekannt. Die CDU-Chefin hat hier schon manche Stunde verbracht. Vor vier Jahren etwa, in der letzten Nacht der Verhandlungen von Union und SPD, als beide Seiten die bis heute amtierende große Koalition vereinbarten. Nun also das Ganze noch mal?
Tag 1 der Sondierungen von Union und SPD, Tag 105 nach der Bundestagswahl - und die Parteichefs mühen sich, etwas gute Laune zu verbreiten. Als Schulz am Sonntagmorgen vor die Mikrofone tritt, hat er einen freundlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Wir ziehen keine roten Linien, aber wir wollen möglichst viel rote Politik in Deutschland durchsetzen.“ Und für den Seelenfrieden der eigenen Partei liefert er seine gewohnte Wendung mit, die Gespräche seien absolut „ergebnisoffen“.
Schon die Ortswahl hat Symbolisches. Merkel als Verhandlungsführerin überlässt Schulz den ersten Auftritt als Hausherr - und damit die Bilder. Sie zeigen, dass die Kanzlerin mit ihrem Gefolge in die rote Zentrale kommen muss, um sieben Wochen nach den an der FDP gescheiterten Jamaika-Sondierungen vielleicht doch noch ihre vierte stabile Regierung hinzubekommen.
Die SPD schlingert Richtung GroKo
Das hängt vor allem davon ab, ob Schulz genug herausholen kann in den Sondierungen in den ersten beiden Januarwochen, so dass er beim Sonderparteitag - wahrscheinlich am 14. Januar - das Ok der Basis für konkrete Koalitionsverhandlungen bekommt. Bisher sind nach Schätzungen in einzelnen SPD-Landesverbänden bis zu zwei Drittel der Delegierten gegen eine neue GroKo. Schulz will bei den Sondierungen mit der Union für einen „anderen Stil“ sorgen als bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen von Union, FDP und Grünen. „Bei uns wird es keine Balkonbilder geben, auch kein Winken.“ Intensives Twittern von Zwischenständen will er auch unterbinden.
Merkel weiß, dass Schulz ein paar „Leuchtturmprojekte“ braucht, um den Parteitag zu überstehen. Und wenn es zum Koalitionsvertrag kommt, auch noch das abschließende Votum der rund 440 000 Mitglieder. Doch CDU und CSU wollen nur über eine große Koalition reden. Schulz dagegen will auch andere Modelle „ergebnisoffen“ verhandeln - wie eine von der SPD tolerierte Minderheitsregierung oder eine „Kooperationskoalition“, bei der die SPD zwar Minister in die Regierung schickt, aber nur bei Kernprojekten wie dem Haushalt und Auslandseinsätzen mit der Union kooperiert. Bei anderen Themen könnten sich beide Seiten hier auch mit anderen Parteien verbünden. Als Beispiel gilt die gegen die Union durchgesetzte „Ehe für alle“.
Gerade die Jusos sammeln Verbündete für ihre Kampagne #NoGroKo. Sie argwöhnen, die Parteispitze habe sich längst auf GroKo-Verhandlungen eingestellt und nähre nur noch die Illusion von anderen Optionen, um sie ruhigzustellen. Schulz hat in sein zwölfköpfiges Sondierungsteam auch den Landeschef der SPD in Nordrhein-Westfalen, Michael Groscheck, geholt. Im größten Landesverband, der fast ein Viertel der Delegierten bei dem Sonderparteitag stellt, gibt es große Ablehnung; hier wird eine Minderheitsregierung favorisiert. Hat Schulz zu wenig zu bieten, droht eine Ablehnung, dann wäre auch er als Parteichef kaum zu halten. Er argumentiert, dass die SPD auch dringend gebraucht wird, um Reformideen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für „mehr Europa“ zügig umzusetzen.
Zum Beispiel bei einem SPD-Herzensthema, dem Rückkehrrecht von Teilzeitbeschäftigten auf Vollzeitstellen, was vor allem hunderttausende Frauen betrifft. Ziel der Partei ist es, das Leben der Menschen zu verbessern, wieder Kümmerer-Partei zu werden. „Bei gutem Willen auf beiden Seiten halte ich das für lösbar“, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) dem „Spiegel“. Schon in der letzten Koalition sei das nur an der Frage gescheitert, ab welcher Betriebsgröße das Rückkehrrecht gelten soll. Interessant: Schulz redet auch nicht mehr über eine einheitliche Krankenkasse; viele in der SPD wollen die Flucht von Beamten und Besserverdienern in die private Versicherung stoppen. Hier könnte die Union der SPD mit Änderungen bei den Beiträgen für Arbeitnehmer entgegenkommen.
Nach der letzten GroKo landete die SPD bei der Bundestagswahl bei katastrophalen 20,5 Prozent. Seit dem rot-grünen Wahlsieg mit Gerhard Schröder 1998 hat die SPD zehn Millionen Wähler verloren. Die AfD sitzt der ältesten demokratischen Partei im Nacken. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel lag die SPD bei der Landtagswahl bei 10,6 Prozent, die AfD bei 24,3 Prozent. Als ein Grund wird der Verlust von Profil in einer Koalition mit Merkels Union angesehen - und ein Verlust des Kontaktes zu den „kleinen Leuten“. Kaum jemand weiß, wofür die SPD heute steht - das Wahlprogramm war ein Sammelsurium vieler Vorschläge, ohne klare Idee für die Zukunft Deutschlands in Krisenzeiten. Viele Genossen fürchten auch, als Regierungspartei bleibe zu wenig Zeit für die nötige Erneuerung.
Natürlich Parteichef Schulz, dem aber nach seinem mehrfachen Nein zu einer großen Koalition Misstrauen entgegen schlägt. Wichtig dürfte sein, ob Groschek die NRW-SPD auf GroKo-Kurs bringt, und wie viel Überzeugungsarbeit die Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles im linken Flügel übernimmt. Eine gewichtige Rolle kommt aber auch dem neuen „Parteiliebling“ Malu Dreyer zu - sie wurde gerade erst mit famosen 97,5 Prozent zur neuen SPD-Vizechefin gewählt. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin erinnert in ihrer Rolle an Hannelore Kraft 2013 vor der letzten GroKo: erst große Skeptikerin, die dann die Partei davon überzeugte, dass man es angesichts durchgesetzter Forderungen - wie 8,50 Euro Mindestlohn - machen müsse. Dreyer betont nun: „Man wird am Ende dann sehen, wie weit man mit den Inhalten kommt, darum geht es, was man bewegen kann in unserem Land. (...).“ Senkt sie am Ende den Daumen, dürfte es schwierig werden. Für Schulz beginnt die wohl schwierigste Weihnachtszeit in seiner politischen Karriere.
Auch die wohl bis tief in die Nacht zu diesem Freitag dauernden Abschluss-Verhandlungen werden im Willy-Brandt-Haus sein. Offensichtlich will man, dass Schulz und seiner SPD die Verkündung von Erfolg oder Misserfolg der Sondierung obliegt. Und damit erst mal die Deutungshoheit. Und es wird zugleich die besondere Verantwortung der Sozialdemokraten klar gemacht: Mit ihnen steht und fällt eine stabile große Koalition.
Seehofer zeigt sich bei seiner Ankunft in der SPD-Zentrale in bester Stimmung. „Erstens fühlt man sich immer wohl in Berlin, zweitens haben wir jetzt spannende fünf Tage vor uns, und drittens weiß ich, dass wir uns verständigen müssen.“ Was er natürlich nicht sagt: Auch seine politische Zukunft hängt vom Erfolg der Verhandlungen ab. Schmieden CDU, SPD und CSU am Ende tatsächlich wieder eine Koalition, könnte er tatsächlich als CSU-Chef an Merkels Kabinettstisch nach Berlin wechseln. Damit er von dort aus seinem langjährigen Intimfeind Markus Söder die Bühne nicht ganz überlassen muss.
Merkel lässt ebenfalls wissen, sie gehe optimistisch in die Gespräche. „Allerdings ist mir klar, dass in den nächsten Tagen auch ein Riesenstück Arbeit vor uns liegt“, sagt sie, während Demonstranten auf der anderen Straßenseite in ihre Trillerpfeifen pusten. CDU-Vize Thomas Strobl (CDU) wird sogar poetisch und bemüht ein Zitat von Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Nun ja, vor zweieinhalb Monaten war auch schon viel von Optimismus die Rede. Als die Union am 20. Oktober endlich mit FDP und Grünen in großer Runde in die Sondierungen startete, sagte Seehofer: „Ich bin zuversichtlich.“ Und Merkel schloss sich an: „Ich auch.“ Am Ende blieb davon nichts übrig, die FDP ließ das Experiment platzen.
Umso wichtiger ist es den Spitzen von Union und SPD, dass nun möglichst nichts an jene glücklosen Jamaika-Tage erinnert. Ein anderer Modus soll her, ein anderer Stil. Keine Begleit-Provokationen per Interview, keine Durchstechereien.
Während die Jamaika-Parteien am Rande ihrer Gespräche ausgiebig auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft für die Kameras posierten, schotten sich die potenziellen Partner diesmal ab. Die Fenster zu den oberen Stockwerken der SPD-Zentrale, wo die Unterhändler tagen und Kartoffelsuppe mit Würstchen löffeln, sind abgeklebt. Die drei Parteien wollen sich nicht in die Karten schauen lassen.
Die Partner haben sich weitgehendes Schweigen verordnet. Am Ende eines jeden Verhandlungstages soll nur der Generalsekretär der jeweiligen Gastgeberseite ein abgestimmtes Statement verkünden - am Sonntagabend ist das SPD-Mann Lars Klingbeil. Damit soll der Eindruck von Vielstimmigkeit und Gegeneinander vermieden werden. Ob das hält?
Merkel, Schulz und Seehofer - alle drei Parteichefs gehen nach den miserablen Wahlergebnissen ihrer Parteien schwer angeschlagen in die Gespräche. Der Kanzlerin sind innen- und außenpolitisch seit der Wahl die Hände gebunden. Immer öfter muss sie lesen, der Zenit ihrer Macht sei überschritten, die Endphase ihrer Regierungszeit angebrochen. Und tatsächlich: Falls es scheitert und am Ende eine Neuwahl ansteht, dürfte sie sich sehr genau überlegen, ob sie noch mal antritt. Auch wenn sie das nach dem Jamaika-Scheitern sofort angekündigt hat.
Für Schulz steht genauso alles auf dem Spiel. Er hatte sich nach dem Debakel bei der Bundestagswahl und dem Jamaika-Aus vorschnell und kategorisch für den Gang in die Opposition entschieden. Nach dieser Ansage hat die SPD lange gehadert und gezaudert, ob sie überhaupt mit der Union sondieren soll. Das hat für heftige Zerwürfnisse in der Partei gesorgt.
Die schwierigste Aufgabe steht Schulz noch bevor: Sollten sich Union und SPD einig, muss er am Sonntag in zwei Wochen einen Parteitag davon überzeugen, dass die SPD in richtige Koalitionsverhandlungen einsteigen soll. Das kann er nur, wenn er der Union vorher inhaltlich möglichst viel abringt. Bringt Schulz den Parteitag in dem Fall nicht hinter sich, ist er selbst weg. Im übrigen aber auch der gesamte SPD-Vorstand. Es sind entscheidende Tage für viele.