Nach der Einigung im Streit um Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen haben führende Koalitionspolitiker eine Rückkehr zur Sacharbeit angemahnt. „Wir sollten alles daran setzen, den Herbst nun zu nutzen, um mit Hochdruck im Bundestag zu Entscheidungen zu kommen“, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) in Berlin. „Ich denke insbesondere an Verbesserungen in der Pflege, bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und zur Stärkung der Rente. Es muss ein Herbst der konkreten Fortschritte für die Bürger werden.“ SPD-Vize Ralf Stegner forderte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Jetzt muss sich die Koalition am Riemen reißen und bei Miete, Pflege, Rente und anderem zeigen, wofür sie da ist.“
Die Parteichefs Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Andrea Nahles (SPD) hatten sich am Sonntagabend nach tagelangem Streit auf eine Versetzung Maaßens ins Bundesinnenministerium geeinigt. Maaßen soll dort Sonderberater im Rang eines Abteilungsleiters werden und genauso viel verdienen wie bisher. Somit ist seine ursprünglich geplante Beförderung zum Innenstaatssekretär mit höheren Bezügen vom Tisch. Mit Spannung werden die Reaktion in der SPD erwartet, deren Führungsgremien am Montag zusammenkommen. FDP, Grüne und Linke kritisierten den Kompromiss scharf.
Seehofer sagte am Abend, Maaßens neuer Posten werde unmittelbar beim Bundesminister angesiedelt. Zuständig sein werde er unter anderem für die Aushandlung von Abkommen für Rückführungen von Asylbewerbern, die gemeinsame europäische Sozialpolitik und Vereinbarungen mit afrikanischen Staaten in der Flüchtlingspolitik. Die Finanzierung der neuen Stelle werde aus dem Haushalt seines Ministeriums erwirtschaftet. „Zusätzliche Mittel sind nicht erforderlich.“
Warum Hans-Georg Maaßen in der Kritik steht
Nachdem am 26. August ein 35-jähriger Deutscher in Chemnitz erstochen worden ist, folgen hunderte Demonstranten dem spontanen Aufruf einer fremdenfeindlichen Hooligan-Gruppe. Sie ziehen durch die Innenstadt, einige attackieren ausländisch aussehende Menschen. Handy-Videos zeigen, wie Menschen aggressiv auf einen Mann zugehen. Am Tag drauf kommen Tausende zu einer Kundgebung der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz zusammen. Einige zeigen den Hitlergruß. Am 28. August sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dass in einem Rechtsstaat kein Platz für „Hetzjagden“ auf Ausländer sei.
Am 7. September meldet sich Maaßen in der „Bild“-Zeitung zu Wort: dem Verfassungsschutz lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben“. Zu einem Video, das am Abend des 26. August auf Twitter veröffentlicht wurde und Jagdszenen auf ausländische Menschen zeigen soll, sagt er: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.
Noch am selben Tag bricht eine heftige Debatte über Maaßen los, verlangen Politiker von SPD und CDU Aufklärung von ihm, legen Linke und Grüne ihm den Rücktritt nahe. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden teilt mit, sie habe keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte. Innenminister Horst Seehofer sagt auf die Frage, ob Maaßen sein volles Vertrauen habe: „Ja.“ Sein Informationsstand sei mit dem von Maaßen identisch. Noch am Abend veröffentlicht das BfV eine Stellungnahme: Die sozialen Netzwerke spielten, so das BfV, auch in Chemnitz eine große Rolle. „Gerade dort finden sich aber immer wieder Fake-News und Versuche der Desinformation.“ Das BfV prüfe alle zugänglichen Informationen.
Beobachter kommen schnell zu dem Schluss, dass es kaum Zweifel an der Echtheit des von Maaßen angeführten Videos gibt. Eine technische Manipulation scheint unwahrscheinlich. Bebauung und Personen im Hintergrund entsprachen den Szenen vom 26. August vor Ort, Augenzeugenberichte stimmen mit den Bildern überein. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) wirft Maaßen vor, er habe Medien pauschal unter Manipulationsverdacht gestellt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nach der tödlichen Messerattacke auf den 35-Jährigen auch nicht wegen Mordes, sondern wegen gemeinschaftlichen Totschlags. Mittlerweile ist ein 22-jähriger Iraker wieder auf freiem Fuß. Ein 23-jähriger Syrer ist weiter in Untersuchungshaft. Nach einem weiteren 22-jährigen Iraker wird gefahndet.
Am 10. September sagt SPD-Chefin Andrea Nahles, wenn Maaßen keine Belege für seine Äußerungen vorlege, sei er in seinem Amt nicht mehr tragbar. Am 12. September wird ein Bericht Maaßens an Seehofer zu seinen umstrittenen Äußerungen bekannt. Darin wirft er dem Twitter-Nutzer, der das Chemnitzer Video veröffentlichte, vor, dieses vorsätzlich mit der falschen Überschrift „Menschenjagd in Chemnitz“ versehen zu haben, „um eine bestimmte Wirkung zu erzielen“. Am selben Tag muss Maaßen vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium und dem Innenausschuss des Bundestags aussagen.
Seehofer sagt hinterher, er sehen keinen Anlass für personelle Konsequenzen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt am Tag darauf trotzdem: „Für die SPD-Parteiführung ist völlig klar, dass Maaßen gehen muss. Merkel muss jetzt handeln.“ Am 15. September sagt Nahles: „Herr Maaßen muss gehen, und ich sage Euch, er wird gehen.“ Ein zweites Spitzentreffen von Merkel, Seehofer und Nahles in der Sache hat am 18. September die Beförderung von Maaßen zum Innenstaatssekretär zum Ergebnis. Nach heftiger Kritik in der SPD, Teilen der CDU und aus der Bevölkerung verlangt Nahles am 21. September, noch einmal neu über Maaßen zu verhandeln.
Nahles nannte die neue Lösung ein gutes Signal, „dass die Koalition in der Lage ist, die öffentliche Kritik ernst zu nehmen und sich selbst zu korrigieren“. Maaßen werde abberufen, seine Tätigkeitsbereiche würden nichts mit dem Verfassungsschutz zu tun haben, befördert werde er nicht, und SPD-Staatssekretär Gunther Adler bleibe. „Insgesamt ist die Grundlage gelegt, dass wir jetzt wieder zur Sacharbeit zurückkehren.“ Die Regierung solle wieder in gutes Fahrwasser kommen. „Darauf hoffe ich.“ Die früheren Pläne hatten vorgesehen, dass für Maaßen der SPD-Staatssekretär Adler, ein Wohnungsbauexperte, weichen muss.
Mit Spannung wird nun erwartet, wie die SPD-Gremien auf den neuen Kompromiss reagieren. Um 9 Uhr kommt das Präsidium zusammen, um 10 Uhr der 45-köpfige Bundesvorstand. Um 17 Uhr trifft sich zudem die SPD-Bundestagsfraktion. „Mit dem Kompromiss kann ich gut leben“, sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius.
Niedersachsen Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte in den ARD-„Tagesthemen“, er sei froh, „dass diese unselige Geschichte zu einem guten Ergebnis gebracht worden ist“. Die vergangenen Wochen hätten viel „Schaden angerichtet“. Auch die SPD-Linke signalisierte vorab Zustimmung zu dem Kompromiss. SPD-Vize Ralf Stegner sagte: „Das ist in dieser Angelegenheit eine gute Lösung.“ Die Bedingungen der SPD seien erfüllt. Bayerns SPD-Chefin Natascha Kohnen, die die SPD-Spitze besonders hartnäckig gedrängt hatte, auf eine Ablösung Maaßens zu bestehen, twitterte: „Hans-Georg Maaßen wird als Chef des Verfassungsschutzes abgelöst und er wird nicht befördert. Das musste erreicht werden und ist nun erreicht.“
Linke, FDP und Grüne übten scharfe Kritik. „Merkel und Nahles sind offenbar begriffsstutzig. Dieses Postengeschacher versteht kein Mensch“, schrieb Linken-Chef Bernd Riexinger bei Twitter. „Es wird der Posten eines Frühstücksdirektors geschaffen“, schrieb ebenfalls dort FDP-Chef Christian Lindner. Grünen-Chef Robert Habeck meinte: „Beförderung zurückdrehen, Sonderposten schaffen - so löst die GroKo ihr absurdes Theater.“ Er bezweifelte, dass durch die Einigung verloren gegangenes Vertrauen wiederhergestellt wird.