Tauchsieder Mehr Demokratie wagen

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Jamaika ist tot

Und wie geht es jetzt weiter? Jamaika ist tot. Eine Neuwahl in absehbarer Zeit verbietet sich, weil die Politik einen Wählerauftrag zu erfüllen hat - und nicht Wähler einen Politikerauftrag zu erfüllen haben. Und ein Zurück zur Großen Koalition - es wäre die dritte seit 2005 - ist nicht wünschbar, für die SPD nicht, aber auch nicht für das Land: Wie sollen Union und SPD über die geschäftsführende Regierung dieser Postwahlwochen hinaus wachsen und eine gemeinsame Basis für vier weitere Jahre finden? Eine große Koalition würde tagespolitisch ihren Dienst tun und das zufällig Anfallende maximal gewissenhaft bearbeiten können - nicht mehr. Sie bestünde aus drei dringend therapiebedürftigen Partnern, die sich in den vergangenen Monaten lustvoll auseinandergelebt haben, sich abgrundtief misstrauen - und identitätskriselnd um sich selbst kreisen.

Nein, des Rätsels (Übergangs-)Lösung wird eine Minderheitsregierung der Union sein, die sich projektweise verpartnert zur versuchsweisen Lösung wirklich wichtiger Fragen: Wie geht Deutschland mit der Konzentration von Macht und Geld in der Hand von (Digital-)Konzernen und Privatleuten um? Welche Instrumente sind hilfreich für den Ausbau von erneuerbaren Energien, für das Ende des Verbrennungsmotors, für den Ausstieg aus der Kohleverstromung, zur Erreichung unserer Klimaziele? Wie bereiten wir unsere Sozialsysteme, unsere Schulen und unseren Arbeitsmarkt auf den Advent der Künstlichen Intelligenz vor? Wie garantieren wir Normalverdienern den Erwerb von Wohneigentum in den Städten? Welche wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Parameter sollen gelten für eine gelingende Europapolitik? Und wenn es auf all’ diese Fragen in den nächsten Monaten keine Antworten gibt, umso besser: Hauptsache, diese Fragen stehen ergebnisoffen im Raum, werden kontrovers diskutiert - und stehen dann vielleicht in ein, zwei Jahren zur Abstimmung.

Eine Minderheitsregierung stärkt das Parlament, belebt den politischen Streit, flexibilisiert den Berliner Betrieb und suspendiert vorübergehend die Parteitaktik - aber das ist längst noch nicht alles: Sie ist auch eine zeitgemäße Antwort auf das zersplitterte Parteiensystem. Wenn anno 2017 Zweierbündnisse jenseits der großen Koalition unmöglich geworden sind und Dreierbündnisse vorübergehend nicht gelingen, dann haben wir es mit „Instabilität“ nur unter der Voraussetzung eines politischen Denkens zu tun, das in den Sechzigerjahren steckengeblieben ist.

Jamaika-Gespräche gescheitert - Statements der Beteiligten

Tatsächlich besteht die „Bewährungsprobe“ (Schäuble) der Politik nicht in ihrer akuten Koalitionsunfähigkeit, sondern darin, der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit moderner Wähler institutionell gerecht zu werden. Im postideologischen Zeitalter können Wähler gleichzeitig den Familiennachzug gutheißen und die ultralockere Geldpolitik der EZB für eine Katastrophe halten, mehr sichere Herkunftsländer definieren wollen und glühende Anhänger der EU-Reformen von Emmanuel Macron sein, den sofortigen Kohleausstieg präferieren und das Ende des Solidaritätszuschlags. Die Phrase vom postideologischen Zeitalter ist mehr als eine Phrase - und es ist deshalb so merkwürdig wie befremdlich, dass SPD, FDP, CSU und Grüne derzeit mal wieder mit der Produktion und Distribution besonders stabiler Weltbilder beschäftigt sind.

Das heißt freilich nicht, dass die Merkel-CDU mit ihrer Nicht-Politik richtiger läge, im Gegenteil: Die Indifferenz der Kanzlerin ist keine Antwort auf den Meinungspluralismus parteilich ungebundener Wähler, sondern der Versuch seiner Einhegung und Abschaffung. Dass Merkel seit Jahren maßgeblich zu „instabilen Verhältnissen“ beiträgt, zu deren Beseitigung sie sich den Wählern anempfiehlt, ist eine Kaltschnäuzigkeit, die beinahe sprachlos macht. Merkel muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den politischen Streitraum im Namen des Konsenses, der Alternativlosigkeit und des Machterhalts gefährlich verengt zu haben.

Jamaika gescheitert: Drei Szenarien möglich

Wer seit Jahren an der Abschaffung einer lebendigen „agonistischen Sphäre des öffentlichen Wettstreits“ (Chantal Mouffe) arbeitet und das genuin Politische in einer Demokratie - die Gegnerschaft von Wertvorstellungen, Meinungen und normativen Zielen - abschaltet, um sich den Wählern als hohle Mitte zu empfehlen, darf sich nicht wundern, wenn sich Agonismus in Antagonismus verwandelt - und statt Gegnern plötzlich Feinde ins Parlament einziehen, die das Regieren erschweren.

Zeit zur Besinnung also, Zeit für Experimente: Wie sähe eine postkoalitionäre Politik aus, die den postideologischen Interessen der Wähler Rechnung trägt? Mit einer Minderheitsregierung ließe sich eine belebende Probe aufs Exempel machen: Wenn Union, FDP und AfD zusammen die Aussetzung des Familiennachzugs verlängern, wüsste der Wähler sich darauf ebenso einen Reim zu machen wie auf ein Nein der SPD zum Ausstieg aus der Kohle - oder auf eine Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung, die ein Innenminister der Union auf Antrag von SPD, FDP, Grünen und Linken umzusetzen hätte. Kurzum: Ein Koalitionsmoratorium wäre nicht gleichbedeutend mit Handlungsunfähigkeit und Destabilisierung, sondern die parlamentarische Praxis würde sich im Gegenteil als Wiedereinübung in das Politische erweisen - und die Demokratie stabilisieren.

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