Britische Chefökonomin Was bei der britischen Wirtschaft für den größten Frust sorgt

Die Brexit-Deadline rückt näher. In der britischen Wirtschaft steigt der Frust. Die Vertreter werden nun sehr deutlich, sagt Rain Newton-Smith, Chefökonomin des Branchenverbandes Confederation of British Industry.

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WirtschaftsWoche: Wie ist die Stimmung in der britischen Wirtschaft gerade?
Rain Newton-Smith: Niedergeschlagen und frustriert. Wir sind jetzt nur noch fünf Wochen von dem Termin entfernt, zu dem wir die Europäische Union verlassen sollen. Und wir wissen noch immer nicht, unter welchen Bedingungen dieser Austritt erfolgen wird. Die Unternehmen möchten ihre Geschäfte führen, sie möchten investieren, sie möchten ihren Angestellten Sicherheit geben. Aber es herrscht einfach keine Klarheit. Es herrscht der Eindruck, dass die Politiker es nicht verstehen, was für einen Schaden diese Unsicherheit derzeit bei Unternehmen und bei den Menschen im gesamten Land anrichtet.

Was Unternehmen derzeit die größte Sorge bereitet ist die Aussicht auf einen No-Deal-Brexit, bei dem wir Ende März ohne irgendein Abkommen aus der EU stürzen. Das würde die Wirtschaft und das Geschäft enorm schädigen. Und es würde sich auf den Lebensstandard der Menschen im gesamten Land auswirken.

Gibt es Landesteile, in denen die Unternehmen besonders besorgt sind über die gegenwärtige Situation?
Es herrscht in allen Landesteilen sehr viel Sorge. In Nordirland ist diese Sorge aber vielleicht noch ein Stück weit größer. Und das hat mit den Befürchtungen zu tun, dass es dort wieder eine harte Grenze geben könnte. Das würde die dortige Wirtschaft stark beeinträchtigen. Vor allem aber machen sich die Menschen dort Sorgen, was das für den Frieden und Wohlstand bedeuten könnte.

Rain Newton-Smith ist Chefökonomin des Branchenverbandes Confederation of British Industry. Quelle: Presse

In Studien des Schatzamt ist die Rede davon, dass bei einem No-Deal-Brexit die Wirtschaftsleistung im Nordwesten Englands in den kommenden 15 Jahren um acht bis zehn Prozent geringer ausfallen könnte als bei einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft. Wir können davon ausgehen, dass wir in einem No-Deal-Szenario ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum sehen werden. Das wird es schwieriger machen, unseren öffentlichen Dienst zu finanzieren, unsere Krankenhäuser und Schulen.

Viele Beobachter scheinen sich darauf zu verlassen, dass es letzten Endes schon irgendeine Lösung geben wird, mit der ein chaotischer Brexit vermieden werden kann.
Die Unternehmen hoffen sicher darauf, dass Premierministerin Theresa May ihr Abkommen mit der EU in der einen oder anderen Form durchs Parlament bekommen wird. Und dass wir dadurch die Übergangsphase bekommen, während der wir festlegen können, wie die zukünftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU aussehen werden. Und das ist ja das Entscheidende. Gleichzeitig blickt die Wirtschaft aber auch auf die Politik und sieht dort keine wirkliche Führungskraft.

Da haben Sie sicher so jemand wie Boris Johnson im Hinterkopf, der einmal zur Sorge der Wirtschaft über den Brexit gesagt haben soll: „Fuck business“. Was für eine Botschaft sendet so etwas aus?
Sicher keine gute. Boris Johnson repräsentiert aber nicht die Sichtweise der Regierung. Und seine Äußerung deckt sich auch ganz sicher nicht mit dem Engagement, das von der Regierung ausgeht. Es hat viele Gespräche gegeben zwischen Wirtschaftsvertretern und verschiedenen Kabinettsmitgliedern. Da wird darüber gesprochen, was sich die Wirtschaft von den zukünftigen Beziehungen wünscht. Es gab ausführliche Gespräche über mögliche Zölle und Fragen der Mehrwertsteuer. Solche Gespräche finden weiter statt.
Was bei der Wirtschaft aber für Frust sorgt, ist der Umstand, dass wir einfach nicht wissen, was in fünf Wochen geschehen wird. Und das lähmt Unternehmen in ihren Entscheidungen, die sie jetzt treffen müssen.

Hätten Sie es sich vorstellen können, dass es so kurz vor dem Brexit eine dermaßen verfahrene und unsichere Situation geben würde?
Wir hätten es nicht erwartet. Es ist eine große Enttäuschung, dass wir in dieser Situation sind. Es ist sicher eine Menge Arbeit in das Austrittsabkommen und in die Übergangsregelungen gesteckt worden, die beide wirklich wichtig sind. Und während wir noch dabei sind, diese Dinge durchs Parlament zu bekommen, gibt es es eine noch viel wichtigere Konversation, die wir über unsere zukünftigen Beziehungen zur EU werden führen müssen. Welchen Zugang sollen unsere kreativen Industrien bekommen? Wie sieht es mit den Finanzdienstleistungen aus? Und was für einen Zugang zum Binnenmarkt sollen wir langfristig haben? Diese Konversation fängt gerade erst an. Und das ist für die Wirtschaft immens frustrierend.

Welche Teile der Wirtschaft wären von einem No-Deal-Brexit am schwersten betroffen?
Mit fällt es schwer, an einen Teil der Wirtschaft zu denken, der nicht von einem harten Brexit betroffen wäre. Die größte Sorge herrscht mit Sicherheit in der Automobilindustrie und in der Landwirtschaft. Auch in der Lebensmittelindustrie und im Handel herrscht große Sorge, ob sie in der Lage sein werden, weiter frisches Obst und Gemüse in den Regalen zu haben. Die Pharmaindustrie trifft umfangreiche Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Medikamente dort zur Verfügung stehen werden, wo sie gebraucht werden. Im Fall eines No-Deal-Szenarios wäre auch unklar, was mit den Daten geschieht, die über Grenzen hinweg geteilt werden müssen. Das würde sich auch auf eine große Zahl von Dienstleistern ebenso auswirken wie auf die Hersteller.

„Auf den Autokonzernen lastet ein immenser Druck“

Honda hat vor wenigen Tagen angekündigt, sein Werk in Großbritannien bis 2022 zu schließen. Ist das eine Folge des Brexits?
Die Ankündigung von Honda ist sehr schade. Das Werk in Swindon ist nicht weit weg von dem Ort, in dem ich wohne. Honda spielt eine gewaltige Rolle in dieser Gegend. Aber das beschränkt sich ja nicht nur auf Honda. Es hat ja in letzter Zeit eine ganze Reihe von Ankündigungen von Vertretern der Autoindustrie gegeben. Auf den Automobilkonzernen lastet derzeit ein immenser Druck.

Da werden sicher mehrere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Aber die Unsicherheit, die der Brexit mit sich bringt, hat sicher nicht geholfen. Aus unseren Gesprächen mit Automobilherstellern wissen wir, dass sie sich immense Sorgen darüber machen, welchen Zollregelungen sie zukünftig unterstehen werden. Vor im Hinblick auf einen möglichen No-Deal-Brexits stehen diese Unternehmen vor Herausforderungen wie: Wird es an der Grenze zu Verzögerungen kommen? Was wird das für die just-in-time-Produktion bedeuten?

Einzelne Kritiker beklagen, dass sich die britische Wirtschaft zu wenig zum Brexit geäußert und somit zu wenig unternommen habe, um auf die Entwicklungen Einfluss zu nehmen.
Diese Sichtweise teile ich nicht. Wirtschaftsvertreter im gesamten Land legen großen Wert auf die zukünftigen Beziehungen mit der Europäischen Union. Und die haben wirklich deutlich gemacht, was sie gerne sehen würden. Und einzelne Wirtschaftsführer haben sich auch ziemlich deutlich zu Wort gemeldet. Etwa der Chef von Airbus.

Unsere Mitglieder legen Wert darauf, dass Großbritannien in einer Zollunion mit der EU verbleibt, solange es nicht eine bessere Lösung gibt, die einen zollfreien, grenzüberschreitenden Handel gewährleistet. Es geht darum, Ursprungsregeln zu vermeiden und Verzögerungen an den Grenzen zu verhindern. Und sie setzen sich absolut dafür ein, dass auch die Anbieter von Dienstleistungen weiter einen Zugang zum EU-Markt haben sollen. Und ihnen ist es auch wichtig, dass die EU-Bürger, die hier leben, arbeiten und zur Wirtschaft beitragen, ein Anrecht darauf haben, hier zu bleiben.

Aber man muss auch verstehen, dass es schwierig sein kann für Wirtschaftsführer, sich dazu zu äußern, was die Unsicherheit für Investitionen und für die Menschen bedeuten könnte, die für sie arbeiten. Sie möchten ihre Angestellten ja nicht unnötig beunruhigen.

Viele Brexit-Unterstützer beharren noch immer darauf, dass sich der Brexit nicht negativ auf das Land auswirken werde. Und dass Warnungen vor wirtschaftlichen Folgen nichts anderes seien als Angstmacherei.
Zu sagen, dass der Brexit noch keine Negativfolgen für die Wirtschaft gehabt habe, ist einfach nur falsch. Wir wissen, dass die Geschäftsinvestitionen in den vergangenen vier Quartalen zurückgegangen sind. Die Bank of England geht derzeit davon aus, dass die Geschäftsinvestitionen dieses Jahr um vier Prozent zurückgehen werden. Wir sehen die Auswirkungen des Brexits in den Daten. Und wenn man sich anschaut, was bei unseren Umfragen herauskommt, wo es um Dinge wie Zuversicht und Investitionsabsichten geht, dann sehen wir sektorenübergreifend, dass die Unsicherheit große Auswirkungen hat.

Man hört immer wieder von Vorfällen, bei denen Brexit-Unterstützer Menschen beleidigen oder bedrohen, die sich kritisch über den EU-Austritt geäußert haben. Hat das CBI ähnliche Erfahrungen gemacht?
Die Stimmung in der Öffentlichkeit ist wirklich vergiftet. Wenn man sich zu den Entwicklungen äußert, dann kann man schnell Angriffen von beiden Seiten ausgesetzt sein. Da mache ich mir auch Sorgen darüber, wie sich das langfristig auf das Land auswirken wird. Denn abgesehen von den persönlichen Angriffen wird es ja auch in der Politik sehr schnell gehässig, wenn es um den Brexit geht. Wir sollten in der Lage sein, über solche Sachen in zivilisierter Art und Weise zu sprechen.

In den vergangenen Tagen hat es bei den Bemühungen der Regierung um Handelsabkommen mit einigen asiatischen Staaten Rückschläge gegeben. Dabei sind solche Handelsabkommen eines der Hauptargumente von Brexit-Unterstützern: Dass Großbritannien verstärkt mit den Wachstumsmärkten der Welt Handel treiben und sich weniger auf Europa konzentrieren sollte. Sie selbst haben ja reichlich Erfahrung mit Asien. Sind solche Handelsabkommen überhaupt erstrebenswert?
Im Hinblick auf unsere Beziehungen zur EU sollte das nicht eine Entweder-oder-Entscheidung sein. Derzeit gehen rund 40 Prozent unserer Waren und Dienstleistungen in die Europäische Union. Die EU ist unser wichtigster Markt. Und das wird auch weiter der Fall sein, ganz unabhängig davon, wie das Wachstum anderswo aussieht.
Für die britische Wirtschaft wäre es besser, wenn das Land in einer Zollunion mit der EU bleiben würde, solange nicht andere Lösungen gefunden werden, die einen reibungslosen Handel garantieren. Denn die Einbußen beim Handel mit der EU, die wir hätten, wenn wir die Zollunion verlassen, würden die möglichen Gewinne bei Weitem überwiegen, die sich aus einem Handelsabkommen mit China ergeben würden. Selbst das Schatzamt kommt zu dem Schluss, dass eine Reihe ambitionierter Handelsabkommen in den kommenden 15 Jahren unseren Handel um gerade einmal 0,1 bis 0,2 Prozent steigern würde. Europa wird noch eine ganze Weile unser wichtigster Handelspartner bleiben.
Auf lange Sicht bin ich aber sehr zuversichtlich, wenn es um unsere Stärken geht. Die liegen bei Dienstleistungen, bei den Finanzdienstleistungen, im Gesundheitssektor, bei der Bildung und bei den kreativen Industrien.

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