Wer wird EU-Kommissionschef? Gipfel abgebrochen: Personalpoker wird vertagt

Der EU-Sondergipfel zur Klärung der Spitzenpositionen ist unterbrochen worden. Er soll nun am Dienstag fortgesetzt werden. Quelle: AP

Nachdem die 28 EU-Regierungschefs seit Sonntagabend vergeblich nach einer Lösung für die Besetzung der EU-Spitzenpositionen gesucht haben, werden weitere Diskussionen auf Dienstag verschoben.

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Nach stundenlangen erfolglosen Versuchen, ein EU-Personalpaket zu schnüren, hat EU-Ratspräsident Donald Tusk den EU-Sondergipfel in Brüssel am Montagmittag unterbrochen. Die Beratungen würden am Dienstag um 11 Uhr fortgesetzt, twitterte sein Sprecher.

Damit geht der Poker um die EU-Topjobs nach einer halbtätigen Pause weiter. Zuletzt wurde ein neues Personalpaket diskutiert, was den niederländischen Sozialdemokraten und bisherigen EU-Kommissionsvize Frans Timmermans als neuen EU-Kommissionspräsidenten vorsieht. Die konservative bulgarische Geschäftsführerin der Weltbank-Institute IBRD und IDA, Kristalina Georgieva, könnte danach EU-Ratspräsidentin werden. Der liberale belgische Ministerpräsident Charles Michel wäre als EU-Außenbeauftragter vorgesehen, und EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber könnte Präsident des europäischen Parlaments werden.

Timmermans hatte bereits am Sonntag als Favorit gegolten. Der Plan war allerdings schon bei Vorgesprächen so umstritten, dass der EU-Sondergipfel in Brüssel am Sonntagabend erst mit gut dreistündiger Verspätung begann. Nach eineinhalb Stunden wurde die Runde der 28 Staatenlenker bis in die frühen Morgenstunden hinein für weitere Einzelgespräche unterbrochen. Gegen Timmermans gab es aber erheblichen Widerstand der osteuropäischen Visegrad-Staaten und einiger EVP-Regierungschefs. Die Ministerpräsidenten von Ungarn, Polen und Tschechien lehnen den niederländischen Sozialdemokraten ab, weil er für die Vertragsverletzungeverfahren wegen umstrittener Justizreformen verantwortlich war. EVP-Regierungschefs wie der Ire Leo Varadkar und der Kroate Andrej Plenkovic und einige Unions-Europaabgeordnete kritisierten dagegen, dass die EVP als stärkste Fraktion im europäischen Parlament das Erstzugriffsrecht haben sollte und nicht die erheblich schwächeren Sozialdemokraten. Für Unmut hatte bei kleineren EU-Staaten zudem der Eindruck gesorgt, dass sich die sechs großen EU-Regierungen bereits am Rande des G20-Gipfels im japanischen Osaka auf Timmermans geeinigt hätten.

EU-Ratspräsident Donald Tusk führte deshalb in der Nacht bilaterale Gespräche. Dabei beriet er zunächst mit den Ministerpräsidenten von Spanien und den Niederlanden, Pedro Sanchez und Mark Rutte sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Dann folgten nach Aussagen von EU-Diplomaten erneut einige bilaterale Gespräche – etwa mit einigen osteuropäischen Länderchefs. Nach Informationen von Reuters aus mehreren EU-Delegationen fragte Tusk nach der Akzeptanz der bulgarischen Weltbank-Chefin Kristalina Georgieva, des irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar und des französischen EU-Brexit-Chefunterhändlers Michel Barnier. Die Reaktionen seien jedoch eher zurückhaltend, heißt es.

Für die Wahl des Kommissionspräsidenten ist eine doppelte Mehrheit nötig: Danach dürfen nicht mehr als sieben Staaten mit maximal 35 Prozent der EU-Bevölkerung gegen eine Entscheidung stimmen. Umstritten war in Brüssel aber generell zudem, ob die EU angesichts der internen Spannungen einen neuen EU-Kommissionspräsidenten gegen den Wunsch vieler Osteuropäer bestimmen sollte. In der Nacht war deshalb auch eine erneute Vertagung der Beratungen nicht ausgeschlossen worden. Kanzlerin Angela Merkel und andere Regierungschefs pochten jedoch auf eine Einigung möglichst noch vor der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten am Mittwoch.

Bereits am Sonntag hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gesagt, dass man über den Posten des EZB-Präsidenten erst später entscheiden wolle. Am Ende müsse es eine ausgewogene geografische Mischung sowie zwischen Männern und Frauen geben. Zudem muss es eine Einigung mit dem Parlament geben, weil der Rat zwar den Kommissionspräsidenten vorschlägt, dieser aber vom Parlament gewählt wird. Vor allem die Christ- und Sozialdemokraten sowie die Grünen im Parlament hatten gefordert, dass nur einer der Spitzenkandidaten bei der Europawahl Kommissionschef werden dürfe. Macron hatte dies zunächst abgelehnt, lenkte aber später ein.

EU-Ratspräsident Tusk hatte am Sonntag für zusätzliche Empörung bei den Konservativen gesorgt. Nach einem ersten Vorschlag sollten die Liberalen den Ratspräsidenten stellen, die EVP neben dem EP-Präsidenten dagegen nur den Außenbeauftragten sowie den Präsidenten des Europäischen Parlaments. Als nicht geklärt galt am Montagmorgen die Länge der Amtszeit von Weber, sollte er Parlamentspräsident werden. In der Vergangenheit hatte der Vorsitz jeweils zur Hälfte der Legislaturperiode gewechselt. Denkbar wäre, dass ein Liberaler oder ein Grünen-Politiker in der anderen Hälfte zum Zuge kommt. Angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist eine breite Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen nötig, um den Kommissionspräsidenten zu wählen.

Seit mehr als vier Wochen ringen die EU-Staaten und das Europaparlament nun um die Besetzung des Spitzenamts in der Kommission und andere Topjobs. Immer wieder zeigt sich, wie kompliziert die Ausgangslage ist. Beim EU-Gipfel muss nun für den Posten des Kommissionspräsidenten eine Einigung gefunden werden, die von mindestens 21 Staaten mitgetragen wird, die 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren.

Weber war Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), die bei der Wahl wieder stärkste Fraktion im EU-Parlament wurde. Der Niederländer Timmermans führte die Sozialdemokraten auf Platz zwei. Weber beanspruchte deshalb die Nachfolge von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker für sich. Doch er fand weder im Rat der Staats- und Regierungschefs eine Mehrheit für seine Nominierung, noch im EU-Parlament eine Mehrheit für seine Wahl.

Merkel hatte Mitte vergangener Woche unter anderem mit Weber und den Vorsitzenden von CDU und CSU, Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder, sowie mit EVP-Chef Joseph Daul sondiert, welche Möglichkeiten nach dem schlechten Wahlausgang für den EVP-Kandidaten bestünden. Am Wochenende führte sie dann am Rande des G20-Gipfels in Japan Vorgespräche mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie den Regierungschefs der Niederlande, Mark Rutte, und Spaniens, Pedro Sánchez, und bahnte einen Kompromiss an. Darüber informierte EU-Ratschef Donald Tusk am Sonntag das Europaparlament.

Demnach war ein Sozialdemokrat als Kommissionschef vorgesehen. Die EVP sollte dafür zwei Ämter bekommen, das des Parlamentspräsidenten und das der EU-Außenbeauftragten. Ein Liberaler sollte neuer Ratschef werden, also Tusks Nachfolger. Damit schien das Prinzip gewahrt, dass einer der Europawahl-Spitzenkandidaten Kommissionschef werden soll – denn darauf besteht eine Mehrheit im Europaparlament. Merkel hatte mehrfach betont, dass sie keinen Konflikt zwischen den Institutionen – also zwischen Rat und Parlament – will.

Doch rebellierte die Europäische Volkspartei, zu der auch CDU und CSU gehören, gegen den Plan. Bei einem Parteitreffen am Sonntagnachmittag sei Merkel heftig kritisiert worden, meldete „Die Welt“. Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow und andere hätten Merkel vorgeworfen, Parteiinteressen missachtet und sich nicht genug für Weber eingesetzt zu haben. Der irische Premier Leo Varadkar sagte beim Gipfel, der Vorschlag Timmermans sei nicht akzeptiert. Merkel sagte vor dem Gipfel: „Es werden keine sehr einfachen Beratungen.“

Macron zeigte sich offen für Timmermans als Kommissionschef – aber auch für den Brexit-Unterhändler Michel Barnier und die dänische Liberale Margrethe Vestager. Vestager war allerdings nicht alleinige Spitzenkandidatin ihrer Parteienfamilie. Macron lehnt das Spitzenkandidatensystem eigentlich ab.

Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis, der den Liberalen zugerechnet wird, sprach sich ebenfalls gegen Timmermans aus. „Diese Person ist nicht die Richtige, um Europa zu einen“, sagte Babis. Die vier Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Ungarn und Tschechien hätten Vorbehalte. Der ungarische Premier Viktor Orban protestierte in einem Brief an die EVP gegen Timmermans.

Babis antworte aber auf die Frage, ob die Zustimmung für Timmermans eine rote Linie sei: „Wir sind flexibel, wir müssen verhandeln.“ Am Ende soll ein ausgewogenes Paket herauskommen, mit dem alle Seiten leben können.

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