Japanische Konjunktur Einäugig unter Blinden

Während Japans Konjunktur relativ gut läuft bremsen die Euro-Volkswirtschaften gegenüber dem Vorjahr ab. Quelle: imago images

Japans Wirtschaft wandelt auf Sonderwegen und zeigt Deutschland die Rücklichter. Ausländische Aktienanleger treiben den Nikkei-Index auf ein 33-Jahres-Hoch.

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Selbstbedienungskassen gehören in vielen der 56.000 Minisupermärkten in Japan trotz einer geringen Durchschnittsgröße von nur 100 Quadratmetern zum Standard. Viele andere Kassen sind teilautomatisiert: Ein Ladenmitarbeiter scannt noch die Ware, aber die Kasse befindet sich auf Kundenseite, die den Bezahlvorgang selbst abwickeln.

Die Maschinen nehmen Bargeld, Kreditkarten, Geldkarten und akzeptieren auch Zahlungen per Smartphone-Apps. Diese Revolution kam schleichend daher, ausgelöst durch den starken Mangel an Personal und dann beschleunigt durch die Pandemie. Die Automatisierung schreitet auch in anderen Service-Bereichen voran: In vielen Kettenrestaurants fahren Servierroboter das Essen zu den Gästen, während in den Küchen immer mehr Maschinen die Gerichte zubereiten. Die hohen Investitionen in maschinelle Helfer stützen die japanische Wirtschaft. Im Auftaktquartal 2023 wuchs das Bruttoinlandsprodukt laut der heutigen, revidierten Schätzung um 0,7 Prozent zum Vorquartal.

Aufs Jahr hochgerechnet legte die Wirtschaftsleistung um 2,7 Prozent zu. Die Kapitalausgaben der Unternehmen wuchsen um 1,4 Prozent zum Vorquartal bereits zum vierten Mal hintereinander. Schon zuvor hatte die Regierung in Tokio erstmals seit zehn Monaten die Wirtschaftslage besser eingeschätzt. Die starken Zahlen kamen nicht überraschend.

Anders als die Notenbanken in den USA und Europa zögert die Bank of Japan den Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik heraus. Das bringt den neuen Notenbankchef Kazuo Ueda in eine diffizile Lage.
von Martin Fritz

„Japan ist der positive Ausreißer in diesem Jahr“, erklärt der Ökonom Robert Feldman vom Brokerhaus Morgan Stanley MUFG. Die Volkswirtschaften der zehn größten Industrienationen wachsen laut seiner Prognose in 2023 im Schnitt nur um 0,5 Prozent, Japans Wirtschaft aber um 1 Prozent. Die Weltbank erwartet für Japan ein Wachstum von 0,8 Prozent und damit doppelt so viel wie für die Eurozone. Und die OECD sagt in ihrem jüngsten Ausblick einen Anstieg des Bruttoinlandproduktes um 1,3 Prozent vorher, die deutsche Wirtschaft soll dagegen stagnieren.

Seien wir fair, man kann es auch anders betrachten: Während Japans Konjunktur relativ gut läuft, da das sogenannte Potenzialwachstum nur magere 0,5 Prozent beträgt, bremsen die Euro-Volkswirtschaften gegenüber dem Vorjahr ab. Japan lässt sich also auch als der Einäugige unter den Blinden beschreiben. Aber ausländische Investoren reagierten auf den Aufschwung und kauften im April und Mai für netto 27 Milliarden Euro japanische Aktien. Die führenden Aktienbarometer Nikkei 225 und Topix kletterten auf 33-jährige Höchststände. Die Konjunktur läuft „hervorragend“, meint auch die US-Investmentbank JP Morgan unter Verweis auf aktuelle Daten: Der Einkaufsmanagerindex für alle Industrien stieg im Mai auf den höchsten Wert seit einem Jahrzehnt und steht nur knapp einen Punkt unter seinem Rekord.

Auch der Index für das produzierende Gewerbe schaltete im Mai wieder auf Expansion, weil die verbesserte Versorgung mit Halbleitern die Autoproduktion ankurbelt. Währenddessen profitieren die Servicebranchen von der Rückkehr der Auslandstouristen nach dem Ende der Pandemie. Dank des festen Privatkonsums und der hohen privaten Kapitalausgaben könnte die japanische Wirtschaft nach einer Einschätzung von UBS Japan selbst eine US-Rezession in der zweiten Jahreshälfte gut meistern. Ein Grund für diese Sonderentwicklung: Japan zeichnet sich als Gewinner der Deglobalisierung ab. Auslandsinvestoren ziehen derzeit Kapital aus China und Hongkong ab, aber es soll in Asien bleiben. Japan bietet sich als naheliegende Alternative an.

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Der Trend zum „Friendshoring“ bei Lieferketten – also die Ansiedlung von Produktionsstätten in befreundeten Ländern – löst einen Boom im Halbleitersektor aus. TSMC, Micron und Samsung investieren in Nippon, das zur „Chip-4“-Allianz von USA, Südkorea und Taiwan gehört. Auch sitzt Japan wie eine Spinne im Netz aller Freihandelsverträge in Asien. „Die Rivalität zwischen den USA und China hat in Japan ein hohes Krisenbewusstsein für die eigenen wirtschaftlichen Abhängigkeiten erzeugt“, erläutert der deutsche Japan-Ökonom Jesper Koll. „Wie vertrauenswürdig ist China noch? Und auch wenn man es nicht laut sagt: Wie vertrauenswürdig sind eigentlich die USA? Davon sind viele Entscheidungen getrieben.“ Das bessere Abschneiden von Japan lässt sich auch mit Sonderwegen erklären. „Ob in der Geldpolitik, der Fiskalpolitik oder der Ordnungspolitik – Japan gibt Vollgas in Sachen Wachstum“, meint Koll. In der Geldpolitik folgt Japan den USA und Europa nicht und verweigert jede Straffung.

Die Notenbank hält auch unter ihrem neuen Gouverneur Kazuo Ueda konsequent an der Nullzinspolitik fest, obwohl die Inflation stabil über drei Prozent liegt – eine so hohe Rate gab es seit den 1990er Jahren nicht mehr. Aber die Inflation ist deutlich niedriger als etwa in Deutschland, weil Strom und Energie nicht ganz so teuer wurden. Japan betreibt zehn Atomkraftwerke, weitere Meiler sollen im Sommer ans Netz gehen. Außerdem bezieht die japanische Wirtschaft weiter Flüssiggas aus Russland. Eigentlich müsste der neue Notenbankchef längst handeln, da sein Inflationsziel von zwei Prozent seit dem vergangenen Jahr deutlich überschritten ist. Auch die Löhne zogen im Frühjahr erstmals seit drei Jahrzehnten kräftig an. Die Großunternehmen, die knapp ein Drittel der Japaner beschäftigen, gewährten einen tiefen Schluck aus der Lohnpulle.

Das Plus von 3,9 Prozent war die höchste Steigerung seit 1993. Auch 60 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen, die sonst extrem knauserig sind, zahlen ihren Mitarbeitern mehr. Doch Ueda will die monetären Stellschrauben erst anfassen, wenn die Lohnkosten weiter steigen und zu höheren Preisen führen. Dafür nimmt Ueda auch den Wertverfall der eigenen Währung in Kauf. Seit März 2022 wertete der Yen allein zum Euro um 20 Prozent ab.

Die Entwicklung wird inzwischen zum Selbstläufer: Denn je mehr der Yen fällt, desto mehr kaufen Privatanleger ausländische Währungen, was den Yen weiter aufweicht. Aber die Zentralbank muss auch den Immobilienmarkt im Blick behalten. Nach über zwei negativen Jahrzehnten werden Grundstücke für Wohnimmobilien wieder teurer, wenn auch nur leicht. Eine Anhebung der Zinsen würde diesen positiven Vermögenseffekt zunichtemachen – noch ein Grund zum Abwarten. „Die Kosten einer zu späten Verschärfung der Geldpolitik sind höher als die eines zu frühen Handelns“, formulierte Ueda sein Credo. Auch Premierminister Fumio Kishida will derzeit kein Ende der ultralockeren Geldpolitik. Sonst müsste er teuer für die steigende Neuverschuldung durch seine neuen Projekte bezahlen: Der Verteidigungsetat soll binnen fünf Jahren um zwei Drittel nach dem Vorbild der NATO auf zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes steigen.

Außerdem plant Kishida zusätzliche 23 Milliarden Euro an Familienhilfen, um die Geburtenrate anzukurbeln. Höhere Steuern lehnt der Premier aber vorerst ab. „Die Regierung toleriert die höhere Inflation, weil die Schuldenquote dabei sinkt“, kommentiert Ökonom Toru Sasaki von JP Morgan Securities. Japans Aufschwung könnte noch eine Weile weitergehen. Die OECD sagt für 2024 ein Wachstum von 1,3 Prozent vorher. Allerdings sehen einige Analysten dunkle Wolken heraufziehen: „Wir sollten die japanischen Exporte nach China beobachten – in zyklischer Hinsicht sollten sie zunehmen“, warnt Ökonom Koll. Denn neben den Investitionen der Unternehmen und dem Privatkonsum bleiben die Ausfuhren ein wichtiges Standbein der japanischen Wirtschaft.

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