Zinsentscheid der US-Zentralbank Die Fed spielt mit dem Feuer

Die Fed verfolgt möglicherweise die riskanteste Strategie ihrer Geschichte. Quelle: Getty Images

Beim Kampf gegen die Inflation strafft die US-Notenbank anders als die EZB ihre Geldpolitik. Doch angesichts des historischen Tiefstands der realen Leitzinsen könnten die Maßnahmen nicht ausreichen und Marktturbulenzen provozieren, warnt der Ökonom Stephen Roach in einem Gastbeitrag.

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Der US-Ökonom Stephen Roach, 76, ist Mitglied des Kollegiums der Universität Yale sowie ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia.

Die US-Notenbank Federal Reserve vollzieht derzeit eine abrupte geldpolitische Kehrtwende – ein durchaus untypisches Verhalten für eine Institution, die traditionell eher für schleppende und bedächtige Änderungen der Geldpolitik bekannt ist. Auch wenn sich die jüngste Kommunikation der Fed (noch ist sie nicht aktiv geworden) weniger kreativ gestaltet als von mir erhofft, so hat sie doch zumindest erkannt, dass sie ein ernsthaftes Problem hat.

Das Problem heißt Inflation. Wie in den frühen 1970er Jahren unter Arthur Burns haben auch die Fed-Entscheidungsträger von heute die Lage falsch eingeschätzt. Der derzeitige Anstieg der Teuerungsrate ist nicht vorübergehender Natur und lässt sich auch nicht als Ergebnis spezifischer Entwicklungen im Zusammenhang mit Covid-19 abtun. Vielmehr ist der Anstieg umfassend und andauernd, verstärkt vor allem durch den Lohndruck, der sich aus einer beispiellos angespannten Situation auf dem US-Arbeitsmarkt ergibt. Unter diesen Umständen wäre die fortgesetzte Verweigerung einer Kurskorrektur durch die Fed ein monumentaler strategischer Fehler.

Doch ein Problem zu erkennen, ist lediglich der erste Schritt in Richtung einer Lösung. Und die wird alles andere als einfach werden. Man führe sich die Zahlen vor Augen: Die Inflationsrate in den USA erreichte im Dezember 2021 sieben Prozent. Da der nominale Leitzins praktisch bei null liegt, ergibt sich daraus ein realer Leitzins (der bevorzugte Maßstab für die Beurteilung der Wirksamkeit der Geldpolitik) von minus sieben Prozent. Das ist ein Rekordtiefstand.

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Nur zweimal in der jüngeren Geschichte - Anfang 1975 und Mitte 1980 - ließ die Fed zu, dass der reale Leitzins auf minus fünf Prozent sank. Beide Zeitpunkte markieren Anfang und Ende der großen Inflation, als der Verbraucherpreisindex über einen Zeitraum von über fünf Jahren um durchschnittlich 8,6 Prozent pro Jahr anstieg.

Zwar glaubt niemand, dass sich eine solche Entwicklung nun wiederholt. Die meisten Prognostiker gehen davon aus, dass sich die Inflation im Laufe des Jahres abschwächt. Angesichts abklingender Engpässe in den Lieferketten erscheint diese Annahme plausibel.

Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Die Fed steht vor einer entscheidenden taktischen Frage: Welchen Leitzins soll sie anpeilen, um der in 12 bis 18 Monaten vorherrschenden Inflationsrate zu begegnen? Eines ist allerdings klar: Angesichts eines realen Leitzinses von minus sieben Prozent wäre selbst im Falle eines raschen Inflationsrückgangs eine radikale Straffung der Geldpolitik nicht ausgeschlossen. So könnte die Fed den realen Leitzins wieder so positionieren, dass er im Einklang mit dem Preisstabilitätsmandat der Notenbank steht.

Um hier Klarheit zu schaffen, muss die Fed eine Schätzung wagen, wann die Inflationsrate ihren Höhepunkt erreichen und danach wieder nach unten gehen wird. Es ist immer diffizil, ein Datum zu bestimmen und noch schwieriger zu ermitteln, was „nach unten“ wirklich bedeutet. Die US-Wirtschaft läuft auf Hochtouren, der Arbeitsmarkt präsentiert sich - zumindest gemessen an der sinkenden Arbeitslosenquote - so angespannt wie seit Januar 1970 nicht mehr (also kurz vor der großen Inflation). Unter diesen Umständen müssen verantwortungsbewusste Entscheidungsträger auf Nummer sicher gehen und nicht auf eine rasche und wundersame Rückkehr der Inflation zu ihrem Trend aus der Zeit vor der Covid-19-Pandemie von unter zwei Prozent setzen.

Betrachten wir noch einmal die Zahlen. Angenommen, der von der Fed prognostizierte Kurs, wie in ihrer jüngsten mittelfristigen „Dot Plot”-Schätzung dargestellt, ist korrekt und die Zentralbank erhöht den nominalen Leitzins bis Ende 2022 von null auf etwa 1,0 Prozent. Das kombiniere man nun mit einer vernünftigen Einschätzung des Desinflationspfades – nicht zu langsam, nicht zu schnell - die für das Jahresende eine Rückkehr der Inflation in den Bereich von drei bis vier Prozent prognostiziert. Damit würde der reale Leitzins am Ende dieses Jahres immer noch bei minus zwei bis minus drei Prozent liegen.

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Das ist der Haken an der ganzen Sache. Im aktuellen Lockerungszyklus hat die Fed den realen Leitzins im November 2019 erstmals unter null gesenkt. Das heißt, dass ein wahrscheinlicher Zinssatz von minus zwei bis minus drei Prozent im Dezember 2022 eine 38 Monate dauernde Phase der außerordentlichen geldpolitischen Anpassung markieren würde, im Laufe derer der reale Leitzins bei durchschnittlich minus 3,1 Prozent lag.

Hier ist auch die historische Perspektive wichtig. Es gab bereits drei frühere Phasen außergewöhnlicher geldpolitischer Akkommodierung, die es zu erwähnen gilt: Im Gefolge der Dot-Com-Blase Anfang der 2000er Jahre verzeichnete die Fed unter Alan Greenspan 31 Monate einen negativen realen Leitzins von durchschnittlich minus 1,1 Prozent. Nach der weltweiten Finanzkrise des Jahres 2008 taten sich Ben Bernanke und Janet Yellen zusammen, um den durchschnittlichen realen Leitzins von minus 1,9 Prozent über 62 Monate aufrechtzuerhalten. Als sich die Konjunkturflaute nach der Krise fortsetzte, hielt Yellen zusammen mit Jerome Powell 37 Monate lang an dem realen Leitzins von minus 0,9 Prozent.

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Das bedeutet: Die Fed von heute spielt mit dem Feuer. Der mögliche reale Leitzins von minus 3,1 Prozent im Rahmen der aktuellen Anpassung läge mehr als doppelt so hoch wie der durchschnittliche Leitzins von minus 1,4 Prozent in den vergangenen drei derartigen Phasen. Zugleich ist das heutige Inflationsproblem ernster, da der Anstieg des Verbraucherpreisindex von März 2021 bis Dezember 2022 im Schnitt fünf Prozent betragen dürfte - verglichen mit den durchschnittlichen 2,1 Prozent, die in den früheren Phasen negativer realer Leitzinssätze herrschten.

Das unterstreicht, dass die Fed möglicherweise die riskanteste Strategie ihrer Geschichte verfolgt. In einer Zeit, da die Inflation mehr als doppelt so rasant voranschreitet wie in den drei früheren Phasen des Experimentierens mit negativen Leitzinssätzen, hat die US-Notenbank rekordverdächtige Impulse zur Ankurbelung der Konjunktur gesetzt.

Mittlerweile ist es müßig, davor zu warnen, dass die Fed den Entwicklungen hinterherhinkt. Ihre „Dot Plots“, nicht nur für dieses Jahr, sondern auch für 2023 und 2024, werden dem Ausmaß der geldpolitischen Straffung nicht gerecht, die höchstwahrscheinlich erforderlich sein wird, die Inflation unter Kontrolle zu bringen.

Die Finanzmärkte sollten sich auf ein böses Erwachen einstellen.

Copyright: Project Syndicate

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