
Nein, das Jahr 2015 hat für John Cryan nicht gut angefangen, es begann mit einem Unfall, beim Skifahren brach sich der 54-jährige Brite ein Bein. Es war eine komplizierte Verletzung, über Wochen konnte er sein Haus im Westen Londons kaum verlassen, humpelte im Gips herum. Das hielt ihn nicht davon ab, sich als Aufsichtsrat um die Deutsche Bank zu sorgen, sich per Telefon in die Sitzungen einzuwählen und später persönlich mit Krücken zu erscheinen. Es ging ja um die Zukunft, um eine neue Strategie, und da wollte Cryan mitreden, so wie er es stets getan hat, seit er 2013 in das Gremium eingezogen ist: kritisch, detailverliebt, meinungsstark.
Wie ein Unfall wirkt es nun für manche auch, dass Cryan von seinem diskreten Posten als Kontrolleur auf den des Vorstandschefs wechselt. Am Nachmittag des 9. Juni, einem Sonntag, um 15.09 Uhr hat die Bank die Personalie verkündet, zum 1. Juli löst der frühere Finanzvorstand der Schweizer Großbank UBS den bisherigen Co-Chef Anshu Jain ab. Dessen Partner Jürgen Fitschen macht ein knappes Jahr weiter, dann hat Cryan das Sagen, dann ist Schluss mit der Doppelspitze.
Stimmen zum Chefwechsel bei der Deutschen Bank
„Ihre Entscheidung, ihr Amt früher als geplant niederzulegen, zeigt auf eine beeindruckende Weise ihre Einstellung, die Interessen der Bank vor ihre eigenen zu stellen.“
„Die neue Spitze der Deutschen Bank steht weiter vor einer existenziellen Frage. Ein neuer Chef wird möglicherweise nicht ausreichen, um das strategische Dilemma zu beenden. Jains Nachfolger John Cryan, ein ehemaliger Investmentbanker aus dem Aufsichtsrat, kann zwar frischen Wind in die bevorstehenden Aufgaben bringen, aber wenig mehr. In vielerlei Hinsicht sind seine Hände gebunden.“
„Als Außenstehender ist John Cryan unbefleckt von den rechtlichen Problemen, die den Ergebnissen der Deutschen Bank und ihrem Ruf schaden. Anshu Jain musste sich der Frage stellen, ob jemand, der dem Investmentbanking so nahe steht, der Richtige sein kann, um mit den Vorwürfen aufzuräumen. Die meisten Anschuldigungen richten sich gegen das Investmentbanking, das Jain führte, bevor er Vorstandschef wurde.“
„John Cryans erste Aufgabe wird es sein, eine neue Strategie zu finden. Die Deutsche Bank braucht eine radikale Operation – wahrscheinlich eine Aufspaltung. Cryan hat sicherlich den Hintergrund und die Erfahrung für diese Herausforderung. Aber die Aktionäre werden nicht viel Geduld haben. Um ihr Vertrauen wieder herzustellen, muss Cryan schnell und richtig handeln.
„Endlich, ist man geneigt zu sagen, denn die alte Garde der Bank wirkte von Anfang an wenig geeignet für einen echten Neuanfang nach den Wirren der Finanzkrise. Besonders Jain steht für genau jene Kultur, die der Bank wegen dubioser Machenschaften ihrer Mitarbeiter rund um den Globus Bussen in Milliardenhöhe seitens der Aufsichtsbehörden eingebrockt hat und die letztlich das Ansehen der einst so stolzen 'Deutschen' – wie das Finanzinstitut in der angelsächsischen Welt, wo die Konkurrenz sitzt, genannt wird – ramponiert hat.“
„Der Aufsichtsrat zieht die Konsequenzen aus dem Abstimmungsdesaster auf der Hauptversammlung. Die Entscheidung für John Cryan kommt nicht überraschend.“
„Die finanziellen Kennzahlen und der Aktienkurs haben sich weit von den Zielen der Bank entfernt. Die Deutsche Bank hat nach Angaben der Behörden die Ermittlungen im Libor-Skandal behindert und auch der jüngste Geldwäscheskandal in Russland zeigt, dass der Kulturwandel nicht vorankommt." Es ist daher nur konsequent, dass es jetzt einen Wechsel an der Spitze gibt.“
„Wir begrüßen die Reaktion des Aufsichtsrats zeitnah zur Hauptversammlung. Um die großen Herausforderungen der Bank in den Griff zu bekommen, war ein wirklicher Neuanfang unausweichlich.“
„Der designierte neue Vorstandschef des Geldinstituts, John Cryan, verfügt über eine gute Reputation. Der Markt reagiert positiv. Zumindest teilweise können die Ziele der neuen Strategie 2020 nun eingepreist werden, was bisher wegen des mangelnden Vertrauens in das bisherige Führungsduo nicht der Fall gewesen ist.“
„Insgesamt rechnen wir damit, dass der Markt die Ankündigung zunächst zwar positiv aufnimmt, allerdings nur kurzfristig. Denn die zentralen Herausforderungen bei Deutschlands größter Bank sind struktureller Natur. Das grundlegende Problem ist die fehlende Basis zur Generierung höherer Renditen. Wegen der mangelnden Möglichkeiten für strategische Veränderungen bevorzugen wir weiter die Aktie der britischen Bank Barclays sowie die der Schweizer Banken Credit Suisse und UBS.“
„Die bisherigen Chefs sind zu stark mit den alten Problemen verbunden. Der neue Vorstand muss jetzt aufräumen, vor allem im Investmentbanking, wo das teilweise kriminelle Verhalten strukturell bedingt war.“
Mit dem Stühlerücken an der Konzernspitze ist es nicht getan. Der Nachfolger wird kaum anders agieren als die alten Chefs. Große Finanzkonzerne können wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung die Politik erpressen, um am Ende auch mit Steuerzahlergeld gerettet zu werden. Wir brauchen eine Stärkung von Sparkassen und Volksbanken, und nicht von Großbanken.“
Der neue Chef muss die Bank schnell auf Kurs bringen, Ende Juli soll es Details zur neuen Strategie geben. Bisher stehen nur deren Grundzüge, Cryan wird die Feinheiten mitgestalten. Die Ziele sind anspruchsvoll und hart: Die Bank soll 3,5 Milliarden Euro pro Jahr sparen, ihre Bilanz um rund 400 Milliarden Euro reduzieren, die Postbank verkaufen und bis zu 200 Filialen schließen. Der neue Chef hat sich schon als Aufräumer profiliert, Weggefährten und Aufsichtsräte trauen ihm zu, dass ihm das wieder gelingt.
Anti-Anshu-Bewegung brachte das Ende
Die kommenden Monate werden alles andere als ein Spaßprogramm, und trotzdem reagieren die Beschäftigten der Bank erfreut bis erleichtert. Der Abgang von Jain und Fitschen erscheint wie die späte, längst überfällige Befreiung aus einer drei Jahre dauernden Blockade, einer zunehmenden Lähmung, einer Abwärtsspirale ohne Ausweg. „Es war höchste Zeit“, sagt ein Aufsichtsrat. Besonders Manager im Privatkundengeschäft atmen auf, bei ihnen hatte Jain als Investmentbanker immer einen schweren Stand. Doch selbst bei seinen Getreuen in London hat der Co-Chef zuletzt deutlich an Rückhalt verloren. „Es hat sich eine regelrechte Anti-Anshu-Bewegung entwickelt“, sagt ein leitender Investmentbanker.
Er und seine Kollegen störten sich vor allem an der schlechten Entwicklung des Aktienkurses. Die hat sie direkt getroffen, sie erhalten einen großen Teil ihrer Boni in Papieren ihres Arbeitgebers. Am Montag nach Bekanntgabe des Chefwechsels stieg der Kurs um teilweise acht Prozent. „Das zeigt, dass die Deutsche Bank die falschen Chefs hatte“, sagt Tim Bush von der britischen Aktionärsvereinigung Pirc.
In den Tagen danach fragen sich viele in und um die Bank, warum es überhaupt so lange gedauert hat, warum Aufsichtsratschef Paul Achleitner all die Verzögerungen, Halbherzigkeiten und nicht eingehaltenen Versprechen erduldete und vor allem warum er die Vorstände erst über Monate eine neue Strategie erarbeiten ließ, die sie nun gar nicht mehr umsetzen können. „Einiges hätte schneller und früher passieren müssen“, sagt ein einflussreicher Aufsichtsrat. „Manche tun sich eben schwer mit tief greifenden Entscheidungen.“
Cryan ist in der Bank noch nahezu unbekannt
Damit meint er Achleitner, der für manche Insider zu langsam und erst dann reagiert hat, als der Druck nicht mehr auszuhalten war. Aus dem Führungszirkel der Bank heißt es dazu, dass der Aufsichtsratschef schon länger sehr unzufrieden mit dem Team an der Spitze gewesen sei, aber erst die Grundlagen für die neue Strategie legen wollte.
Cryan stand jedenfalls als Lösung für den Notfall bereit, er wird nun nach Frankfurt ziehen und sich in der Bank bekannt machen, in der er nahezu unbekannt ist. Und wo einzelne vermuten, dass sich unter dem neuen Herrn nicht viel ändern wird. „Wieder ein Brite, wieder ein Investmentbanker, das ist eine Richtungsentscheidung“, sagt ein Vertreter des Privatkundengeschäfts. Für ihn heißt die: Da hat wieder einer das Sagen, der seine Sprache nicht versteht.