„Ich steige in den Bus und bete nur“ Nervenprobe in Bus und Bahn: Pendeln in Pandemie-Zeiten

In den Bahnen sind oft viele Personen auf engem Raum. Quelle: dpa

Kein Abstand, Mitfahrer ohne Maske, Angst vor Ansteckung: Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind wegen Corona für viele mit Stress verbunden. Doch Millionen Pendler weltweit haben keine Alternative.

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Langsam, aber sicher macht sich bei Aura Morales auf dem Weg zur Arbeit Angst breit. Ein Fahrgast steigt ohne Maske in den Bus in Los Angeles ein, aber sie traut sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Der Bus wird immer voller, an Mindestabstände ist nicht mehr zu denken. Aber mit dem Auto zu ihrer Arbeit in einem Pharmaunternehmen zu fahren, kommt für Morales nicht in Frage. Denn sie kann sich kein eigenes Fahrzeug leisten, vor allem nicht, seit ihre Arbeitszeit gekürzt wurde. „Ich steige in den Bus und bete nur“, sagt die 53-Jährige.
Wie ihr geht es in der Corona-Pandemie Angestellten in den gesamten USA, die nicht von zu Hause arbeiten können. Bei der Entscheidung, wie sie am besten zur Arbeit kommen, müssen sie ihre Sicherheit gegen die finanziellen Möglichkeiten abwägen. Das betrifft Beschäftigte in Supermärkten und an Universitäten ebenso wie medizinisches Personal und Reinigungskräfte.
Diejenigen, die sich gegen den öffentlichen Nahverkehr entschieden haben und stattdessen mit dem eigenen Pkw fahren, haben zu einem Boom im Gebrauchtwagenhandel in den USA beigetragen. Die Umsätze stiegen im Juni auf den bislang höchsten Wert überhaupt.

Die öffentlichen Verkehrsbetriebe indes verzeichnen einen Rückgang der Fahrgastzahlen. Dabei bleiben nicht nur Pendler weg, die aufs eigene Auto umsteigen, sondern auch Beschäftigte, die jetzt im Homeoffice arbeiten oder ihre Arbeit verloren haben. Im öffentlichen Nahverkehr sank das Fahrgastaufkommen nach Angaben des zuständigen Verbands American Public Transportation Association (Apta) im dritten Quartal um 62 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bei der Bahn betrug der Einbruch im gleichen Zeitraum sogar 72 Prozent.

Die Verkehrsbetriebe in großen Städten wie San Francisco, New York und Washington warnen, dass sie ohne weitere staatliche Finanzhilfen viele Mitarbeiter entlassen und ihre Angebote einschränken müssten. Für die Industrie gehe es ums Überleben, es drohten dramatische Kürzungen der Dienstleistungen, sagt Apta-Präsident und -Geschäftsführer Paul Skoutelas: „Beschäftigte aus wichtigen Branchen sind weitestgehend auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen, und wir dürfen sie nicht im Stich lassen.“
Im September pendelten laut einer Umfrage der Universität Chicago und des Meinungsforschungsinstituts AP-NORC in den USA 71 Prozent der Beschäftigten aus allen Branchen an ihren Arbeitsplatz. Die übrigen 29 Prozent waren in Telearbeit.

Wer den öffentlichen Nahverkehr nutzt, ist schon seit dem Beginn der Pandemie im März mit reduzierten Fahrplänen konfrontiert. Busse und Züge sind daher voller als früher. Das Pendlererlebnis ist noch unerfreulicher geworden, seit angesichts steigender Infektionszahlen die Spannungen rund ums Masketragen und Abstandhalten steigen.
Hipolito Andon fährt mit der U-Bahn zum Rockefeller Center in Manhattan, wo er als Pförtner arbeitet. Der 44-Jährige und seine Ehefrau, die mit dem Bus zu ihrer Arbeitsstelle in einer Schulmensa pendelt, sind Diabetiker und gehören damit zur Risikogruppe. Auch Andons Sohns nimmt den Bus zur Arbeit. Sobald die drei nach Hause kommen, duschen sie und ziehen sich um. Andon beobachtet in der U-Bahn inzwischen zunehmend Fahrgäste ohne Maske, wie er erzählt. „Man hört, wie Leute murmeln: „Warum trägt der Typ keine Maske?“. Aber niemand stellt ihn zur Rede. Die Leute rücken nur ab.“


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Alexandra Fee will sich solchen Situationen nicht mehr aussetzen. Dabei hatte sich die Studienberaterin an der Universität in Arlington im US-Staat Virginia ihre Wohnung wegen der Nähe zur Bushaltestelle ausgesucht. Doch jetzt sind die Busse immer voll und fahren deshalb manchmal sogar an ihrer Haltestelle vorbei. Darum hat Fee sich ein gebrauchtes Auto zugelegt. „Wenn ich zu einer bestimmten Zeit morgens den Bus nehmen will und der dann voll ist, soll ich dann eine halbe Stunde auf den nächsten warten?“, sagt die 28-Jährige.
Solche Rechnungen machen immer mehr Pendler weltweit auf. In Dutzenden Städten, darunter Paris und London, erreichte der Autoverkehr im September wieder das gleiche Niveau wie vor der Pandemie, obwohl viele Beschäftigte nach wie vor im Homeoffice sind. In der Krise zeige sich wieder, wie wertvoll der Besitz eines Transportmittels sei, sagt Stephen Beck von der Beratungsfirma cg42.

Millionen Menschen ohne eigenes Auto dagegen müssen ihre Ängste unterdrücken, wenn sie täglich in U-Bahnen, Busse und Züge steigen. Der Pförtner Sule Sokoni aus Manhattan etwa setzt sich auf seiner anderthalbstündigen U-Bahn-Fahrt so hin, dass er beobachten kann, wer ein- und aussteigt. Wenn jemand hustet oder ohne Maske unterwegs ist, wechselt er den Waggon. Derzeit baut er ein Fahrrad zum E-Bike um und will künftig damit zur Arbeit fahren.
Tatsächlich sind in der Pandemie Alternativen zu öffentlichen Verkehrsmitteln beliebter geworden, Angebote wie Bike-Sharing und Fahrdienstvermittlungen wie Uber boomen. Bei Uber verdoppelte sich nach Unternehmensangaben zwischen März und September die Zahl der Geschäftskunden.

Mehr zum Thema: Für Taxiunternehmer stehen in der Coronakrise keine Hilfsgelder bereit, obwohl ihr Umsatz um bis zu 80 Prozent einbricht.

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