Einmal im Jahr lädt die Deutsche Bahn zum Neujahrsempfang nach Berlin. Aus ganz Deutschland kommen ausgewählte Journalisten meist im Januar in die Hauptstadt. Der damalige Bahnchef Rüdiger Grube hielt dann jedes Jahr eine Rede über die Herausforderungen der Deutschen Bahn, die vergangenen Monate und die Pläne für die Zukunft. Anschließend standen er und seine Vorstandskollegen den Medienvertretern in Hintergrundgesprächen Rede und Antwort.
In der Regel bildete sich dann beim anschließenden Empfang um Grube schnell eine neugierige Menschentraube. Auch der frühere Infrastrukturvorstand Volker Kefer und sein Nachfolger Ronald Pofalla zogen viele Interessierte an. Um Richard Lutz dagegen versammelten sich meist weniger Journalisten. Das lag weniger an seiner Person als vielmehr an seinem Ressort, das er leitete: Das Finanzressort begeistert aus Tradition eher weniger der meist produktverliebten Bahnjournalisten.
Doch das Interesse an Lutz wird sich nun schlagartig ändern. Der 52-Jährige ist nicht nur neuer Chef der Deutschen Bahn, sondern bleibt in Personalunion auch Finanzchef des Konzerns. Lutz erhält damit mehr Aufgaben und Kompetenzen als Grube und Hartmut Mehdorn. Er stellt sogar all seine Vorgänger in Sachen Machtfülle deutlich in den Schatten. Nie gab es einen mächtigeren Bahnchef als Richard Lutz - innen und außen.
Was der neue Bahnchef Lutz jetzt angehen muss
2016 wurde das Ziel knapp verfehlt, dass 80 Prozent der Fernzüge pünktlich sein sollen - wobei die „Unpünktlichkeit“ nach Bahn-Definition erst sechs Minuten nach der Fahrplanzeit beginnt. Langfristiges Ziel sind 85 Prozent. Dafür ist einiges angeschoben, etwa Störungssensoren für Weichen und besser gebündelte Bauvorhaben. Und die Türen schließen jetzt 20 Sekunden, bevor der Uhrzeiger auf Abfahrtzeit springt.
Immer mehr Bahnsteige erhalten mehrzeilige Zuganzeiger, damit Kunden früher sehen, ob sie richtig stehen. 108 Bahnhöfe bekommen bis 2020 neue „DB Information“-Stände, wo es neben persönlicher Beratung Selbstbedienungsschalter gibt. Die Reiseauskunft per Internetseite und App wird mit aktuellen Verkehrsdaten gefüttert, um schnell entscheiden zu können. Auch die zweite Klasse im ICE hat kostenloses WLAN erhalten.
Immer mehr Fernzüge kommen zum „Reset“, einer Grundreinigung mit Reparaturen und teils Sitzaustausch. Nach und nach löst der neue ICE4 ältere ICE-Züge auf den wichtigen Strecken ab. Zusätzliches Geld fließt, um große Bahnhöfe besser zu putzen, Sensoren sollen Störungen an Fahrstühlen und Rolltreppen melden.
Niedrige Spritpreise, Billigflieger und Fernbusse haben es dem Fernverkehr lange schwer gemacht. Zuletzt fuhren aber wieder Menschen mit ICE- und Intercity, vor allem weil es mehr Sparpreis-Fahrscheine gibt. Bei der Bilanzvorlage am Donnerstag wird Lutz verkünden, dass der Umsatz im Fernverkehr vergangenes Jahr um rund 100 Millionen Euro auf mehr als vier Milliarden Euro gewachsen ist. Schub dürfte auch die neue Verbindung Berlin-München bringen, die der neue Chef im Dezember eröffnet. Fahrtzeit: vier Stunden.
Ideen sind notwendig im Regionalverkehr, wo sich Bahn zuletzt bei Ausschreibungen immer mal wieder geschlagen gegeben musste, weil Konkurrenten günstiger waren. Im vergangenen Sommer lag der Bahn-Marktanteil am Regionalverkehr noch bei 70,8 Prozent.
DB Cargo ist seit Jahren ein Sanierungsfall. Abgesehen von Gütern wie Eisenerz und Kohle sind viele Transporte kleinteilig, es mangelt an Effizienz. Der Marktanteil sank auf 60,9 Prozent im vergangenen Sommer. 2016 gaben Umsatz und Transportleistung noch einmal nach. Ein eigener Vorstand soll den Sanierungsplan durchziehen.
Der Bau des Tiefbahnhofs und der Tunnelstrecken in und um Stuttgart bleibt ein Termin- und Kostenrisiko. Platzt der Rahmen von 6,7 Milliarden Euro, droht Streit darum, wer die Mehrkosten finanziert. In der Bahn-Führung liegt das Projekt bei Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla, dem Ambitionen auf den Chefposten nachgesagt wurden.
Lutz steht auch für einen bis Mitte 2016 auf 18,1 Milliarden Euro gestiegenen Schuldenberg. Der Bahn-Eigentümer Bund kündigte im September an, dem Unternehmen in den kommenden vier Jahren 2,4 Milliarden Euro extra für Züge und Technik zur Verfügung zu stellen.
Am Tag vor Lutz' Wahl forderte Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) aber auch dringend, dass die Finanzsituation stabilisiert werde. Hier steckt Lutz in einer Zwickmühle. Als er vor einem Jahr tiefrote Zahlen präsentierte, sagte er: „Qualität mag Geld kosten. Aber Nichtqualität würde Kunden und damit die Zukunft kosten.“
Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt ist damit ein Coup gelungen, der nach außen unspektakulär daher kommt, für die Zukunft der Deutschen Bahn aber eine große Rolle spielen wird.
Vorgezeichnet war das nicht. Lutz ist auch nicht das typische Beispiel einer internationalen Managerkarriere. Eigentlich trägt sein Lebenslauf sogar nur zwei Stationen: Universität und Deutsche Bahn. Der 52-Jährige promovierte am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre in Kaiserslautern und wechselte bereits 1994 zur Bahn. Den Grundstein für seinen Aufstieg zum Finanzvorstand legte Lutz in seiner Zeit als enger Vertrauter des langjährigen Bahn-Finanzvorstands Diethelm Sack. Bereits als 39-Jähriger übernahm Lutz die Leitung des Bereichs Konzerncontrolling. Dann folgte er Sack 2010 auf den Vorstandsposten.
Wie die Deutsche Bahn 6,3 Milliarden Euro vergeudet
Umwandlung der Bundes- und der Reichsbahn in die Deutsche Bahn AG mit den Töchtern Fernverkehr, Regionalverkehr, Güterverkehr, Bahnhöfe und Netz.
Hartmut Mehdorn wird neuer Bahn-Chef.
Übernahme von Stinnes Logistik mit der Spedition Schenker. (Kosten: 2,5 Milliarden Euro)
Übernahme des US-Logistikdienstleisters Bax Global. (Kosten: Eine Milliarde Euro)
Ausgliederung des Beförderungs- und Transportgeschäfts in die DB Mobility Logistics AG mit dem Ziel des Börsengangs (wegen der Finanzkrise abgeblasen).
Rüdiger Grube wird neuer Bahn-Chef.
Übernahme des britischen Nahverkehrsanbieters Arriva. (Kosten: 2,8 Milliarden Euro)
Endgültiger Abschied vom Börsengang.
Schenker und Arriva sollen - zunächst in Teilen - wieder verkauft werden.
Lutz kennt den Konzern daher besser als jeder andere Vorstand, geschweige denn jeder andere Bahnchef vor ihm. In den letzten Jahren schnupperte er sogar in die Konzernsparten Arriva und Schenker hinein. Eigentlich wollte die Bahn die Töchter in Teilen verkaufen. Lutz verantwortete den Prozess. Es kam zwar nicht mehr dazu, weil der Brexit etwa den Wert der britischen Nahverkehrstochter drückte. Doch dafür bekam Lutz nun sogar einen wichtigen Schnupperkurs in Sachen operatives Geschäft auf der Schiene – und wertvolle Erkenntnisse für seine neue Rolle als Bahnchef.
Dass Lutz im Hintergrund seit Jahren wichtige Fäden zog, wissen nur wenige. So hatte der Manager auch bei der überraschenden Eigenkapitalspritze durch den Bund im Herbst 2016 seine Finger im Spiel. 2,7 Milliarden Euro schießt der Staat in den nächsten Jahren zu. Die Bahn braucht deshalb auch Schenker nicht versilbern. Und die Verschuldung bleibt erst einmal unter Kontrolle. Lobby-Vorstand Pofalla soll die Politik zu dem Schritt überredet haben, heißt es. Doch Lutz hat mindestens den gleichen Anteil daran. In Berlin ist der neue Bahnchef schon lange wichtiger Kontaktmann – und in Zukunft sowohl für den Verkehrs - als auch den Finanzminister Ansprechpartner Nummer eins bei der Deutschen Bahn.