
AOL – gibt es die noch? Ja, tatsächlich. Doch die Zeiten, in denen Boris Becker fragte „Bin ich schon drin, oder was?“ sind längst passé. Denn AOL hat seine Zugkraft in seiner Ursprungsbranche verloren und damit seine Bekanntheit eingebüßt. Der Internet-Dino spielt gefühlt keine Rolle mehr. Aber AOL hat nicht aufgegeben, sondern erfindet sich neu. Das Unternehmen will das Geschäft mit digitalen Inhalten und Werbevermarktungstechnologie endlich zu seinem Zugpferd machen – mit inhaltsstarken Plattformen, eigenen Videoinhalten und einem breiten Anzeigennetzwerk.
Erste Erfolge sind sichtbar: Die Erlöse im Werbegeschäft legen zu – im ersten Jahresquartal allein um zwölf Prozent. „Es ist eine Frage der Zeit. Wir sind gerade mitten im Wandel“, sagt AOL-Präsident Bob Lord zu den Zahlen. „Es wird erst in der Zukunft wirklich richtig profitabel sein – deutlich mehr als jetzt.“ Das Risiko, über einige Jahre weniger zu verdienen, will man bei AOL eingehen: „Wir schaffen ein Medienunternehmen der nächsten Generation, und ich bin sehr stolz darauf“, beschreibt es der AOL-Präsident. „Es ist eine Evolution von dem, was AOL immer gewesen ist.“





Lord stapelt nicht gerade tief, wenn er von der Zukunft spricht. Das Medienunternehmen, das es derzeit auf einen Umsatz von 2,5 Milliarden Dollar bringt und somit in der Rangliste der 100 größten Medienkonzerne der Welt gerade einmal im hinteren Drittel liegt, hat Großes vor. Lords Vision in fünf Jahren: „AOL ist dann die Nummer eins der mobilen Medien-Plattformen weltweit. Das ist das Ziel, das wir vor Augen haben.“
Internet gestern, Werbung heute, mobil morgen
Wer heute im Internet werben möchte, hat zahlreiche technische Möglichkeiten: Neben der klassischen Link- oder Bannerwerbung gibt es Werbung in sozialen Netzwerken, Werbeeinblendungen in Videos und Werbung in mobilen Apps. Online-Werbung wurde so zu einem extrem komplizierten, teils schwer durchschaubaren Markt.
Diese chaotische Vielfalt hat AOL vor kurzem gebündelt. Nachdem die Start-ups Advertising-com und adapt.tv aufgekauft wurden, hob AOL ein Jahr später das eigene Werbenetzwerk aus der Traufe: AOL One heißt die Plattform, die Bob Lord 2014 vorstellte. Sie sollte Werbekunden das Management verschiedener Anzeigenprodukte erleichtern und den vollen Werbemix leicht zugänglich anbieten. Mit Banner, Pop-Up, Video und Social-Network-Anzeigen.
AOL-Geschichte: Von American Online bis Millennial Media
AOL-Vorgänger „Quantum Computer services“ bringt seinen ersten Messenger auf den Markt.
Nach einer Mitarbeiterabstimmung wird Quantum in „America Online“ umbenannt. Kurz: AOL.
AOL wird der Öffentlichkeit präsentiert.
AOL beginnt damit, CDs an Haushalte zu verschicken, die eine Software enthält, mit der jeder von zuhause aus ins Internet kommt.
AOLs Provider-Service überschreitet die magische Zahl: 1 Millionen Kunden.
Nur ein Jahr später hat AOL bereits 5 Millionen Kunden.
AOL macht zwei wichtige Zukäufe: CompuServe und den Messenger ICQ.
Mit Moviefone und dem Internet-Browser Netscape erweitert AOL sein Portfolio.
Der gefühlte Höhepunkt der Macht: AOL fusioniert mit dem klassischen Medienkonzern Time Warner und wird zum Giganten AOL Time Warner.
Als Folge der geplatzten Dotcom-Blase (März 2000) muss AOL Riesenbeträge abschreiben und weist im Geschäftsjahr 2002 einen Verlust von 99 Milliarden US-Dollar aus.
American Online wird offiziell zu AOL und beginnt damit seinen Online-Service und -Inhalte kostenlos anzubieten.
Scheidung einer unglücklichen Verbindung: Time Warner und AOL trennen sich und werden wieder zu zwei individuellen Unternehmen. AOL beginnt sich auf das Werbegeschäft zu konzentrieren.
AOL kauft die Huffington Post und beginnt so damit sich als Medienunternehmen mit starken Inhalten zu positionieren.
Investor Starboard treibt Spekulationen zufolge eine Fusion von AOL und Yahoo voran. Dies wird im April 2015 von AOL-Chef Tim Armstrong endgültig dementiert.
Das große „Kaufjahr“: AOL kauft Millennial Media, lässt sich von Verizon für 4,4 Milliarden Dollar kaufen und übernimmt für 10 Jahre die Anzeigenvermittlung für sämtliche Microsoft-Plattformen in neun Ländern weltweit.
Spätestens mit AOL One ist das Unternehmen zu einem der weltweit führenden Werbenetzwerk-Anbieter geworden. Die Gründe sind vielfältig: ständig wachsende Erlöse im Werbezweig – und zwar deutlich stärker als Microsoft, Facebook und Google. Zudem produziert das Unternehmen erfolgreiche journalistische Online-Inhalte: HuffingtonPost, TechCrunch und EnGadget sind dabei die erfolgreichsten. „Die Portale ermöglichen uns eine Strategie, mit der wir gezielt ein Publikum aufbauen und ansprechen“, sagt Bob Lord. „Ohne die wären wir einfach nur eine Tech-Werbefirma, aber die Möglichkeit, eine eigene Zielgruppe, ein eigenes Publikum aufzubauen und Werbekunden passend anzubieten, ist für uns entscheidend.“
Da AOL mobil als Vermarkter noch nahezu unsichtbar ist, muss das Unternehmen dort aufstocken, um an Bedeutung zuzulegen. Sonst ist der Wettbewerb mit Google und Facebook mehr als utopisch. In der Branchenliste des Forschungsinstituts eMarketers, die ein US-Ranking der mobilen Werbeerträge nach Unternehmen auflisten, taucht AOL noch nicht einmal auf – wegen zu geringen mobil erwirtschafteten Erlösen.
Das sollte sich mit dem Kauf von Millennial Media ändern. Die App-Werbeplattform, die mehr als 65.000 Apps unter anderem in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Japan zu AOL bringt, kostete 238 Millionen Dollar und brachte vor allen eins: mobile Reichweite.
„Millennial Media hat eine Reichweite und eine fortschrittliche Technologie, die AOL im Wettbewerb mit der Konkurrenz einen großen Schritt nach vorne bringen.“ Genau dort sieht auch sieht auch eMarketer-Analystin Lauren Fisher AOLs größten Gewinn: „Vor Millennial Media hatte AOL eigentlich keine wirkliche mobile Präsenz im Werbegeschäft. Millennial bringt jetzt diese Reichweite und noch viel wichtiger: AOL bekommt dank Millennial Zugang zum App-Ökosystem.“