Digitale Optimisten
Jemand richtet Speisen unter einer Infrarotlampe an Quelle: imago images

Ghost Kitchens: Wie das Silicon Valley die Gastronomie revolutionieren will

Der zweite Corona-Lockdown verdeutlicht: Die Gastronomie muss sich verändern. Wie sehen die Restaurants der Zukunft aus? Im Silicon Valley fließt schon jetzt viel Geld in die Neuerfindung der Gastronomie.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Im Lockdown-November 2020 sind Restaurants dicht. Um die Mittagszeit sehe ich entweder Schwärme von Lieferdienstfahrern mit ihren viereckigen Rucksäcken durch die Stadt radeln – oder gestresste Homeoffice-Arbeiter, die schnell zum Thai-Restaurant laufen und dort am Pick-up-Fenster Essen von der Mittagskarte zum Mitnehmen bestellen.

Krisen haben die Fähigkeit, Schwachstellen in Geschäftsmodellen schonungslos offenzulegen und disruptive Veränderungen enorm zu beschleunigen. Die Auswirkungen de Pandemie sind mit Ausnahme der Hotellerie wohl nirgendwo so offensichtlich zu sehen wie in der Gastronomie. San Francisco ist für seine Restaurantszene genauso berühmt wie für die Golden Gate Bridge, aber der Gastronomie geht durch Corona zunehmend die Luft aus: Absurd hohe Mieten und sinkende Kaufkraft sind ein toxischer Cocktail für die Foodszene in der Bay Area. Zudem ändert sich das Kundenverhalten: Nur noch 10 Prozent aller Amerikaner kochen selbst noch gerne, bevorzugen aber dennoch zunehmend den Verzehr zu Hause und zeigen den physischen Restaurants die kalte Schulter. Darauf passen die vielen Lieferdienste wie Uber Eats, Caviar und Deliveroo ihr Geschäftsmodell an und wachsen seit Jahren zweistellig.

In diese Lethargie betritt jetzt ein neuer Spieler die Bühne, der Potenzial hat, das wacklige Gleichgewicht in der Gastronomie aus den Angeln zu heben: „Ghost Kitchens“, auch bekannt als Virtual oder Cloud Kitchens. Sie versprechen einen völlig neuen Marktzugang für Gastronomen, da sie das Betreiben eines voll ausgestatten physischen Restaurants überflüssig machen. Stattdessen mieten sich Gastronomen in eine professionelle Küche für Stunden, Tage oder Wochen ein, bereiten dort ihre Speisen zu und vermarkten diese ausschließlich über Food-Delivery-Dienste. „Ghost Kitchens“ sind eine große Wette von Venture Capital Firmen weltweit: Letztes Jahr hat Travis Kalanick, Gründer und ehemaliger CEO von Uber, mit seinem neuen Projekt 400 Millionen US-Dollar Risikokapital aus Saudi Arabien erhalten, um Marktführer in diesem Segment zu werden.

von Jacqueline Goebel, Daniel Goffart, Henryk Hielscher, Katja Joho, Stephan Knieps, Bert Losse, Andreas Macho, Theresa Rauffmann

Ben Seabury ist ein Veteran der Restaurant-Szene. Er betreibt mit Little Star Pizza sein eigenes „Brick-and-Mortar“ Pizza-Franchise und macht mittlerweile 40 Prozent seines Umsatzes mit Food Delivery. Außerdem hat er selbst schon Ghost Kitchens gebaut, betrieben sowie als einer der ersten Mieter von Kalanicks „GhostKitchens“ in San Francisco die andere Seite kennengelernt. Laut Seabury liegen die Vorteile von Ghost Kitchens auf der Hand: Sie ermöglichen es fast jedem zum Restaurantbetreiber zu werden, bedienen den Trend der Essenslieferung mit viel weniger Anfangsinvestition als jedes herkömmliche Restaurant. „Time-to-money, also die Zeit bis zum ersten verkauften Gericht, liegen mit einer Ghost Kitchen bei 150.000 Dollar, mit einem echten Restaurant bei mindestens 750.000 Dollar.“ Das Interview mit Ben Seabury hören Sie in meinem Podcast „Digitale Optimisten“.

Mit „Ghost Kitchens“ können Gastronomen viel besser experimentieren, ob neue Restaurantkonzepte funktionieren – schließlich überleben nur wenige Restaurants in den USA die ersten fünf Geschäftsjahre. Gleichzeitig gibt es viele kritische Stimmen, die behaupten, „Ghost Kitchens“ würden Restaurants noch weiter in die Abhängigkeit von Online Lieferdiensten bringen, bei denen die Marge für den Gastronomen auch mal nur noch knapp halb so hoch sein kann. Außerdem würden sich Restaurants dadurch völlig den Zugang zu Kundendaten abgraben – und damit zu einem besseren Verständnis ihrer Zielgruppe.

Wie werden „Ghost Kitchens“ ausgehend aus dem Silicon Valley die gastronomische Landschaft in den USA und weltweit verändern? Vieles ist möglich, ich sehe drei Szenarien.

Drei Szenarien: Amazon, Netflix, Apple

Szenario Amazon

Vor einigen Jahren sah man noch häufiger unabhängige Modegeschäfte. Heute sehen sich diese Geschäfte einem Problem ausgesetzt: Globale Modeketten wie Uniqlo und Primark sind meist viel günstiger; und bei Amazon oder Zalando ist die Auswahl größer und die Jeans lässt sich auch von der Couch aus bestellen. Das Szenario könnte auch auf Restaurants zukommen. Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung auf die Hand bieten weiter die Döner-, Currywurst- und Gyrosbuden. Für das soziale Get-Together und den besonderen Anlass wird es weiterhin außergewöhnliche Erlebnisgastronomen und Sterne-Restaurants geben. Die vielen kleinen Restaurants aber zwischen diesen Enden, der Italiener um die Ecke oder das Schnitzelrestaurant im Vorort, könnten in diesem Szenario zunehmend unter Druck kommen, weil die Konkurrenz vieler günstiger, „virtueller“ Restaurants steigen wird. Ben Seabury rechnet mit einer Explosion des Food-Angebots in naher Zukunft durch „Ghost Kitchens“: „Jeder Zahnarzt und Software-Entwickler, der zu Hause ein gutes Pesto macht und dem seine Freunde sagen „Du musst ein Restaurant aufmachen“, kann plötzlich mit Ghost Kitchens ein Restaurantbetreiber werden.“

Szenario Netflix

Online-Lieferdienste haben im Kern ein ähnliches Problem wie Streaming-Anbieter: Die Kundenloyalität ist relativ gering und basiert insbesondere darauf, welchen Content (Serien für Netflix und Restaurants für Delivery Hero) diese anbieten. Netflix hat auf dieses Problem mit einer Vertikalisierung reagiert, das heißt sie entwickeln ihren eigenen Content wie House of Cards oder Stranger Things. Serien, die es exklusiv bei Netflix gibt. In den USA haben die Lieferdienste den Kampf um die exklusive Bindung der besten Restaurants natürlich schon längst eröffnet, allerdings haben sie noch nie eigenen Content entwickelt. „Ghost Kitchens“ könnten das fehlende Puzzlestück für Online-Lieferdienste sein: Mit diesen können sie kostengünstig, skalierbar und exklusive Restaurantkonzepte ausprobieren, die ihnen zumindest kurzfristig einen Wettbewerbsvorteil bringen.

Szenario Apple

Das iPhone dominiert das hochpreisige Smartphone-Segment und ist damit zu einem der profitabelsten und erfolgreichsten Produkte aller Zeiten geworden. Das einzige Problem: Apple kann mit einem mehr als 800 Euro teuren Smartphone nicht den ganzen Markt erschließen. Deshalb führt es eine weitere Modellversion ein, das iPhone SE, das nur etwas mehr als die Hälfte kostet. Die gleiche Strategie könnten High-End Restaurants mit Hilfe von „Ghost Kitchens“ verfolgen. Restaurantbetreiber würden dann mit niedrigen Kosten zweite, dritte und vierte Konzepte lancieren, die Essen unter Umständen günstiger anbieten und den Massenmarkt per Essenslieferung einfacher bespielen können als die teureren Flagship-Restaurants. Auf diese Weise können Restaurants ihr unternehmerisches Risiko auf mehrere Konzepte verteilen und durch größere Einkaufsmengen ihre Kosten senken. Aktuell sind „Ghost Kitchens“ aber laut Ben Seabury in ihrer jetzigen Ausprägung noch davon entfernt, dieses Geschäft von etablierten Restaurants zu bedienen. Die anmietbaren Küchen sind mit durchschnittlich etwa 25 Quadratmetern zu klein für die Massenproduktion. Lieferwege sind häufig verstopft, weil der hohe Andrang von Lieferfahrern nicht zu beherrschen ist. Und das Essen wird oft kalt, weil Möglichkeiten zur Zwischenlagerung fehlen.


Das interessiert WiWo-Leser heute besonders


Douglas ist kein Einzelfall

So schummels sich Ikea, Karstadt & Co. am Lockdown vorbei


„Doppelt so lang schwätzen, halb so viel verdienen“

Warum VW-Händler keine E-Autos verkaufen wollen


Curevac-Gründer Ingmar Hoerr

„Ich dachte, der KGB hätte mich entführt“


Was heute wichtig ist, lesen Sie hier



Ob nun solche oder völlig andere Szenarien eintreten, die Gastronomieszene wird sich nicht zuletzt durch den Corona-Schock in den nächsten Jahren deutlich wandeln. Technologische Innovationen wie „Ghost Kitchens“ werden einen Teil leisten und irgendwann vielleicht auch Ben Seaburys Traum ermöglichen: Er möchte der erste Gastronom sein, der eine Pizza per Drohne ausliefert.

Mehr zum Thema: Mehr Geschichten aus dem Silicon Valley und frische Ideen von der nächsten Gründergeneration hören Sie im Podcast „Digitale Optimisten“ des Kolumnisten.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%