Fachkräftemangel Wo Kanada als Paradebeispiel in Sachen Einwanderung taugt – und wo nicht

Die Skyline von Toronto, Kanada. Quelle: imago images

Olaf Scholz besucht Kanada. Zu Hause drängt die FDP auf ein Punktesystem für die Einwanderung – nach kanadischem Vorbild. Doch ein genauer Blick zeigt, dass es mehr braucht, als hoch qualifizierte Migranten mit System auszuwählen.

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Zu Beginn ein paar Zahlen: In Kanada leben etwa 38,5 Millionen Menschen. Deutschland zählt mit 83,2 Millionen mehr als doppelt so viele Einwohner. Hierzulande sind im vergangenen Jahr allerdings nur etwa 329.000 Personen mehr zugezogen als die Bundesrepublik verlassen haben. Die kanadische Bevölkerung ist dagegen um fast 458.000 Menschen gewachsen – also um mehr als ein Prozent.

Kanada ist das Land mit einer der höchsten Zuwanderungen weltweit – wenn man die Zahlen auf die Einwohnerzahl umrechnet. Das Land hält dieses Niveau – mit Ausnahme der Coronapandemie – seit etwa einem Jahrzehnt. Da die Mehrheit der Zuwandernden zudem hoch qualifizierte Migranten und Migrantinnen sind und Kanada somit beim Qualifikationsniveau seiner Einwandernden einen globalen Spitzenplatz belegt, gilt das Land als Paradebeispiel in der Einwanderungspolitik.

Es verwundert daher nicht, dass die FDP gerade ihre Forderung bekräftigt hat, das deutsche Einwanderungsrecht jetzt rasch, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, nach kanadischem Vorbild um ein Punktesystem zu erweitern. Die Hoffnung: So sollen mehr Arbeitskräfte aus dem Ausland zur Jobsuche auch in die Bundesrepublik gelockt, der Fachkräftemangel abgemildert werden. 

Wenn Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck zum Wochenstart zu einem mehrtägigen Besuch in Kanada erwartet werden, stehen Energie- und Rohstoffragen im Mittelpunkt. Doch auch der Kampf gegen den Fachkräftemangel rangiert hoch auf der deutschen Agenda – besonders Habeck betont oft, dass die ambitionierten Klimaschutzpläne ohne Ingenieurinnen und Handwerker kaum Wirklichkeit werden können. Kanada ist also ein idealer Anschauungsort – oder?

Was das kanadische Modell ausmacht

In einer Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung hat der deutsche Wissenschaftler Oliver Schmidtke, der in Kanada an der University of Victoria als Professor für Politikwissenschaften und Neuere Geschichte lehrt, im vergangenen Jahr das Immigrations- und Integrationsregime seines Gastlandes analysiert. Demnach stand Kanada Ende der Sechzigerjahre vor demographischen, sozialen und politischen Herausforderungen, „die mit denen Deutschlands heute zumindest in wichtigen Bereichen vergleichbar sind“.

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Eine schnell wachsende Wirtschaft hatte zu einem enormen Arbeitskräftemangel geführt. 1967 führte Kanada ein Punktesystem für die Einwanderung ein – und veränderte seine Migrationspolitik damit radikal: weg von der Praxis, fast ausschließlich Europäerinnen und Europäer, bevorzugt aus Großbritannien und Frankreich, einwandern zu lassen; hin zu einem Regime, das Einwanderer allein auf Grundlage ihrer Qualifikation auswählt.

Seither steht der volkswirtschaftliche Nutzen von Migration im Vordergrund. Die so Einwandernden heißen denn auch economic immigrants und machen heute, neben den Menschen, die über Familienzusammenführung und Asyl immigrieren, etwa 60 Prozent der gesamten Einwanderung Kanadas aus. Die meisten Migrantinnen und Migranten kommen derzeit aus Indien, Pakistan und China – Länder, wo auch Deutschland großes Potenzial für Einwanderung sieht.

Ausgewählt wird in Kanada beispielsweise nach Alter – möglichst junge Leute –, Ausbildung, Sprachkenntnissen in Englisch und Französisch (der zweiten Amtssprache), Berufserfahrung (auch im Land) und einem möglicherweise bereits bestehenden Angebot eines kanadischen Arbeitgebers. Wer ausgewählt wird, bekommt unbefristete Visa für sich sowie gegebenenfalls für Partner und Kinder – und kann sich nach drei Jahren im Land einbürgern lassen.

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