Freytags-Frage
Immer mehr Staatenlenker versprechen ihren Bürgern Glück im Alleingang – dabei liegt die Lösung im Multilateralismus

Können Alleingänge einem Land zu Wohlstand verhelfen?

Angela Merkels Plädoyer für den Multilateralismus kommt zur rechten Zeit. Die regierenden Nationalisten erzeugen in ihren Ländern gerade selbst die Belege dafür, dass Alleingänge mit Vorsicht zu genießen sind.

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Am Mittwoch dieser Woche hielt Bundeskanzlerin Merkel eine fulminante Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. In dieser Rede gab sie ein überzeugendes Plädoyer für die multilaterale Ordnung ab. Man kann davon ausgehen, dass der Beitrag noch lange nachhallen wird.

Und dies zurecht. Denn Frau Merkel hat sehr deutlich daran erinnert, dass die globale Ordnung, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut und erweitert wurde, vielen Menschen in der Welt – und keineswegs nur in den reichen Ländern – den Ausstieg aus der Armut ermöglicht hat. Sowohl der Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen an der stetig steigenden Weltbevölkerung als auch ihre Anzahl hat sich in den letzten vier Dekaden deutlich verringert. Allein in China sind in dieser Zeit etwa 600 Millionen Menschen der Armut entkommen.

Dieser Aufstieg der vormals Ärmsten vollzog sich überdies nicht auf Kosten anderer, sondern eher im Geleitzug, wenigstens wenn man auf Aggregate blickt. Internationale Arbeitsteilung in Form des globalen Handels und des internationalen Kapitalverkehrs ist in einer Marktwirtschaft eben gerade kein Nullsummenspiel. Freiwillige Arbeitsteilung steigert die Effizienz und sorgt für mehr Wohlstand – einerlei, ob sie lokal, regional, national oder global stattfindet. Mehr Wohlstand heißt konkret oft besseren Zugang mit Gesundheitsleistungen, Bildung, Wasser, Abwasser und Elektrizität.

Angela Merkel erneuerte beim Weltwirtschaftsforum ihre Botschaft: eine internationale Ordnung ist alternativlos – und muss reformiert werden. Überraschender waren die Auftritte zweier anderer politischer Stargäste.
von Ferdinand Knauß

Die Arbeitsteilung sorgt außerdem dafür, dass Menschen sich kennen und einander vertrauen lernen. Eine der wichtigsten Lehren aus dem Ersten Weltkrieg und der Zwischenkriegszeit war die Erkenntnis, dass Nationalismus und Beggar-Thy-Neighbour, also eine bewusste Politik zulasten anderer Länder, in gewaltsamen Konflikten enden muss. Diese Erkenntnis hat die führenden Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert – wie Cordell Hull, Winston Churchill, Theodore Roosevelt und Jan Smuts – dazu veranlasst, für eine auf Kooperation und Austausch bauende Weltordnung zu werben und tatkräftig daran mitzuwirken.
Die bedeutsamsten Säulen dieser Ordnung sind die Vereinten Nationen (UNO) mit ihren Unterorganisationen, die Weltbank mit ihren regionalen Partnern, die Welthandelsordnung (WTO) und der Internationale Währungsfonds (IMF), die unterschiedliche Aspekte globaler Ordnung regeln. Hinzu kommen Organisationen wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und etliche mehr. Über sechzig Jahre lang stand diese Weltordnung nicht in Frage. Wie oben erwähnt hat die Armut abgenommen und sind viele epidemische Krankheiten kein Problem mehr; immer mehr Menschen sind gut ausgebildet. Insgesamt geht es der Menschheit so gut wie noch nie.

Seit einigen Jahren ändert sich jedoch die positive Einschätzung zur Globalisierung, weil ihre Schattenseiten sichtbar werden und weil nicht mehr alle Regeln durchgesetzt werden. Viele der Aktivitäten in der globalisierten Welt tragen zu Klimawandel bei, größere Unternehmen sind einflussreich und können die Regeln missachten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Etliche große Länder scheren sich nicht um die Regeln, wie zum Beispiel China im Falle der Handel- und Investitionsregeln – man missachtet dort häufig geistige Eigentumsrechte, subventioniert eigene Unternehmen oder kümmert sich nicht um Menschenrechtsverletzungen in den Empfängerländern von Direktinvestitionen in Entwicklungsländern – oder jüngst die USA im Klimaschutz. Russland ist tief darin verstrickt, mittels Cyberwar die Öffentlichkeit in Demokratien aufzuwühlen.

Merkel strebt globale Allianz für multilaterale Weltordnung an

Immer mehr Menschen beginnen daran zu zweifeln, dass ihnen die Globalisierung, wie wir sie heute erleben, Vorteile bringen soll. Dazu haben neben den erwähnten Vorfällen sicherlich die Arbeitsplatzverluste in den traditionellen Industrien in den OECD-Ländern wesentlich beigetragen. Sie waren es nicht allein. Auch die Wanderungsströme der letzten Jahre werden als Bedrohung aufgefasst. Dies zeigen die Erfolge der Populisten in Europa und vor allem den Vereinigten Staaten (USA).
Nun wäre es verfehlt, das Misstrauen in Europa hinsichtlich der Globalisierung allein dem Verhalten Chinas, der Trump-Administration oder Unternehmen wie Google in die Schuhe schieben zu wollen. Zu lange haben die liberalen Kräfte in der westlichen Welt es als selbstverständlich erachtet, dass die Globalisierung und der damit verbundene Strukturwandel allen zugute kommt. Das ist aber keineswegs selbstverständlich.

Alleingänge verhelfen einem Land nicht zur Größe

Es gab und gibt immer wieder Verlierer des Strukturwandels, wobei technischer Fortschritt daran einen höheren Anteil als die Globalisierung hat. In einer solchen Situation müssen diese schuldlosen Verlierer die Chance erhalten, sich neue gut bezahlte Arbeitsplätze zu suchen, und in der Übergangszeit angemessen durch den Sozialstaat unterstützt werden. Dies setzt einen zielgenauen Sozialstaat sowie eine Bildungspolitik, die auch für Ältere noch Fortbildung anbietet, voraus.

Das Problem in der westlichen Welt ist, dass in der Vergangenheit Arbeitsplätze im Bereich niedriger Qualifikationen wegfielen, weil die Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländer abwanderte. Die vielen neuen Jobs entstanden aber vielfach in höherqualifizierten Bereichen. Nicht alle waren darauf adäquat vorbereitet; dies sieht man sehr anschaulich in den USA. Dadurch hat die vormals gutverdienende Mittelschicht erheblich an Einkommen und Sozialstatus verloren. Das wurde lange nicht gesehen.
Gerade diese Bevölkerungsteile sind für die Sirenengesänge der Populisten sehr anfällig. Präsident Trump hat zum Beispiel versprochen, die Stahlproduktion zurück nach Amerika zu holen und chinesische Waren auszusperren. Dies klang sehr verlockend; dass er diese Versprechungen noch damit garnierte, der globalen Elite den Hahn abzudrehen und Amerika groß, das heißt auch ungebunden durch „schlechte“ multilaterale Abkommen, zu machen, hat seine Unterstützung eher noch gesteigert – er hat erfolgreich mit Ängsten gespielt.

Hinzu kommt das kulturelle Argument, das übrigens von links wie rechts vorgetragen wird. Die Globalisierung – so der Vorwurf – raube den Menschen die Identität, überall bestimmten globale Marken das Bild, und nationale oder regionale Eigenheiten würden an Bedeutung verlieren. Amerikanischer Pop verdränge das französische Chanson, deutsche Autorenfilme hätten gegen Hollywood keine Chance. Die Linke sieht die Entwicklungsländer als Opfer, die Rechte fürchtet den Austausch der Bevölkerung. Die Empirie stützt beide Sichtweisen nicht.

Moralische Empörung und Ausgrenzung Andersdenkender beherrschen den öffentlichen Diskurs. Der Bundespräsident hat Recht: Wir müssen einander zuhören und sachbezogen über die Lösung von Problemen streiten.
von Andreas Freytag

Es fällt dennoch nicht leicht, gegen diese Narrative zu argumentieren. Das bloße Versprechen auf Besserung reicht nicht aus. Es muss auch glaubwürdig vermittelt und durchgesetzt werden, dass jeder einzelne Mensch in den reichen Ländern eine Chance auf den Aufstieg hat und dass Jobverluste nur kurzfristig ein Problem sind. Da muss noch einiges geschehen.
Es gibt aber positive Signale, ironischerweise vielfach ausgehend von den Populisten, deren Versprechen mit ihrer Politik nicht eingehalten werden können, wie sich gerade in den USA, aber auch bereits in Europa, zum Beispiel in Italien zeigt:

• Der vom US-Präsidenten Trump angezettelte Handelskrieg kostet nicht nur in China oder der Europäischen Union (EU) Einkommen und vernichtet Arbeitsplätze, sondern schädigt auch die amerikanische Wirtschaft und damit auch Trumps Kernwähler. Gerade die Autoindustrie leidet unter höheren Stahlrechnungen und Lieferengpässen; auch sinken zum Beispiel die Verkäufe amerikanischer Landwirte nach China dramatisch. Langsam dämmert es den amerikanischen Wählern, dass Amerika nicht im Alleingang groß wird.


• Hinzu kommt, dass die Drohungen aus Washington, Zölle für europäische Produkte massiv anzuheben, nicht nur die üblichen Verdächtigungen wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), sondern auch Globalisierungskritiker wie Gewerkschaften oder erklärte Gegner transatlantischen Freihandels wie die Grünen aufgeschreckt haben. Es dämmert manchem, dass die guten Einkommen in Deutschland auf der internationalen Arbeitsteilung basieren. Insofern ist der amerikanische Präsident ein wichtiger, wenn auch unfreiwilliger Treiber der Wiederbelebung des Multilateralismus.


• Die Drohungen der neuen italienischen Regierung gegenüber der EU und ihr Streit mit der Europäischen Kommission haben sich in Luft aufgelöst; auch ihre vollmundigen Versprechungen sind nicht zu halten. Italien sollte besser nicht auf die Idee kommen, die EU zu verlassen.


• Dies zeigt auch das nachgerade lächerliche Auftreten der Brexiteers und noch stärker die jetzt schon sichtbaren Auswirkungen des geplanten Brexit auf die britische Wirtschaft und damit die Menschen im Vereinigten Königreich.


• Auch ändert sich die Sicht auf global agierende Unternehmen und ihr bisweilen durchaus dubioses Wettbewerbsverhalten im Moment – vor allem bei Regierungen. Man erkennt zunehmend an, dass Marktwirtschaften nicht funktionieren, wenn einzelne Akteure über Marktmacht verfügen und andere ausbeuten können – eine Erkenntnis, die Walter Eucken schon in den 1940ern eindrucksvoll formuliert hat und die Pate stand für die Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft. Es kann durchaus erwartet werden, dass der Einfluss von Global Players auf die Politik in Zukunft schwindet.


• Und schließlich habe viele politische Entscheidungsträger im sogenannten Westen begriffen, dass die in den 1940ern geschaffenen Regelwerke und Institutionen nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügen. So wird zum Beispiel energisch an einer Reform der WTO gearbeitet.


Dies sind einige Beispiele, die Mut machen. Nicht nur die deutsche Bundeskanzlerin, sondern im Grunde Politiker aus allen großen Ländern einschließlich China haben erkannt, dass Alleingänge einem Land nicht zur Größe verhelfen, sondern Wohlstand und Frieden gefährden. Sie arbeiten an der Modernisierung des Multilateralismus.
Diejenigen, die an nationalistischer Politik festhalten, sorgen durch deren Ergebnisse für sehr anschauliche Negativbeispiele und tragen so dazu bei, dass die Begeisterung für diese Politik im Zeitablauf abnimmt. Vor diesem Hintergrund kann man optimistisch sein, dass die multilaterale Ordnung eine verheißungsvolle Zukunft hat.

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