Post aus Harvard
Die Demografie setzt auch den Vereinigten Staaten zu und untergräbt die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung. Quelle: imago images

Warum die USA die Rente mit 70 brauchen

Martin Feldstein Quelle: Bloomberg, Montage
Martin S. Feldstein US-amerikanischer Ökonom, Professor für Wirtschaftswissenschaften und ehemaliger Oberster Wirtschaftsberater für US-Präsident Ronald Reagan Zur Kolumnen-Übersicht: Post aus Harvard

Die Demografie setzt den USA zu und untergräbt die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung. Die Vereinigten Staaten brauchen eine Gesetzesnovelle, lockerere Investmentvorgaben für den Rentenfonds und die Rente mit 70.

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Es ist ein Problem, das viele Staaten trifft: Da die Lebenserwartung zunimmt und die Anzahl der Rentner im Verhältnis zu den Steuerzahlern steigt, geraten die Rentensysteme in Schwierigkeiten. In den nächsten Jahren dürfte sich das Problem weiter verschärfen: Die ungünstige demografische Entwicklung führt zu steigenden Belastungen bei der Finanzierung der Renten- und Krankenversicherung.

Besonders heikel ist die Lage in den USA. Dort wird die Sozialversicherung über einen Treuhandfonds finanziert. Das System funktioniert wie folgt: Es gibt eine gesetzlich vorgeschriebene Lohnsteuer, die ausschließlich zur Finanzierung von Rentenzahlungen verwendet wird. Zu diesem Zweck tragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils 6,2 Prozent des Lohns (bis maximal 128.000 Dollar pro Person) bei, also einen Betrag, der sich jährlich entsprechend der Durchschnittslöhne erhöht. Diese Steuergelder werden in den Treuhandfonds der Sozialversicherung übertragen und in Staatsanleihen angelegt.

Normalerweise sind die Begünstigten ab einem Alter von 67 Jahren entsprechend der Höhe ihrer lebenslangen Steuerzahlungen rentenberechtigt. Sie können aber wählen, bereits mit 62 oder erst mit 72 Jahren in Rente zu gehen – mit entsprechend niedrigeren beziehungsweise höheren Bezügen. Die jährlichen Rentenzahlungen sind an die Gesamteinkünfte der Berechtigten angepasst.

Aufgrund der alternden Bevölkerung steigen die Gesamtrentenansprüche allerdings stärker als die Steuereinnahmen. 2010 lagen die gesamten Steuereinnahmen für die Sozialversicherung bei 545 Milliarden Dollar und die Auszahlungen bei 577 Milliarden Dollar. Da die Zinseinnahmen aus zuvor gekauften Anleihen einen Umfang von 108 Milliarden Dollar erreichten, vergrößerte sich das Volumen des Treuhandfonds um 76 Milliarden Dollar. 2016, also sechs Jahre später, waren die Steuereinnahmen auf 679 Milliarden und die Auszahlungen auf 769 Milliarden Dollar gestiegen. Das Defizit von 90 Milliarden Dollar entsprach ziemlich genau den Zinsen dieses Jahres, wodurch das Volumen des Fonds fast gleich blieb.

Seit 2016 liegen die Auszahlungen allerdings höher als die Summe aus Steuereinnahmen und Zinsen -  und der Fonds schrumpft. Für die Zukunft schätzen die Mathematiker der Sozialversicherungsbehörde, dass das Volumen des Fonds weiter zurückgeht. 2034 könnte es bei null liegen und auch die Zinseinnahmen versiegen. Da die Zahlungen aber nur aus dem Treuhandfonds geleistet werden können, müssten sie dann auf das Niveau der entsprechenden Steuereinnahmen dieses Jahres gesenkt werden.

Ändert der Kongress das entsprechende Gesetz also nicht, gehen die Rentenzahlungen nach Ansicht der Experten im Jahr 2034 schlagartig um 21 Prozent zurück. Um einen derart massiven Einschnitt zu vermeiden, müssten die Steuern von insgesamt 12,4 Prozent auf fast 16 Prozent erhöht werden.
Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass eine Mehrheit im Kongress dafür stimmen würde, die Auszahlungen der Rentenversicherung um 21 Prozent zu senken oder die Lohnsteuer aller Arbeitgeber und -nehmer drastisch zu erhöhen. Die wahrscheinlichste Alternative liegt darin, das Niveau der Auszahlungen mithilfe der allgemeinen Einkommensteuer konstant zu halten. Dazu müsste diese personenbezogene Steuer um etwa 10 Prozent steigen. So würde die Last der Sozialversicherungsprogramme in Richtung der Haushalte mit höherem Einkommen verschoben werden, die den größten Teil der persönlichen Einkommensteuern zahlen.

Die drohende Krise in der Zukunft könnte aber auch dadurch vermieden werden, dass die USA das Rentenalter erhöhen – wie bereits 1983 geschehen. Auch damals waren die Finanzen der Sozialversicherung gefährdet, und der Kongress einigte sich parteiübergreifend darauf, das Standardrentenalter Schritt für Schritt von 65 auf 67 Jahre zu erhöhen. Seit dieser Zeit ist die Lebenserwartung von Menschen dieses Alters um drei Jahre gestiegen. Jetzt könnte der Kongress beschließen, das Standardrentenalter schrittweise um weitere drei Jahre zu erhöhen, nämlich von 67 auf 70 Jahre. Da die Lebenserwartung im Alter von 67 Jahren 17 weitere Lebensjahre beträgt, entspräche eine Erhöhung des Rentenalters um drei Jahre einer 17-prozentigen Verringerung der lebenslangen Auszahlungen – fast genug, um das Defizit aus den verringerten Einnahmen auszugleichen.

Eine andere Strategie im Umgang mit den immer höheren Rentenausgaben könnte darin bestehen, sich von dem reinen Umlageverfahren zu lösen und eine Investmentkomponente hinzuzufügen. Anstatt die Einkünfte aus den Lohnsteuern ausschließlich in Staatsanleihen anzulegen, könnte ein Teil in ein Aktienportfolio fließen, so wie es die Pensionsfonds der Konzerne tun. Dann würde der Treuhandfonds schneller wachsen - und die Krise verhindert.

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