Deglobalisierung, Insolvenzen, Digitalisierung Diese Corona-Thesen haben sich so nicht bewahrheitet

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Alles nur noch über Zoom

4. Das Ende der Geschäftsreise

„Ich rechne damit, dass die Zahl der Geschäftsreisenden auf Dauer zwischen zehn und 20 Prozent unter dem Jahr 2019 liegt“, prognostizierte der Lufthansa-Chef Carsten Spohr im November vergangenen Jahres. Ähnlich schlechte Aussichten prognostizierte auch Christoph Carnier, Chef des Geschäftsreiseverbands VDR im vergangenen Jahr: „Es werden nur noch die absolut unverzichtbaren Reisen gebucht.“ Unternehmen haben die Möglichkeit der Videokonferenzen für sich entdeckt. So sparte Weltmarktführer und Schraubenhersteller Würth beispielsweise im Coronajahr 2020 70 Millionen Euro an Reisekosten, wie Reinhold Würth der WirtschaftsWoche mitteilte.

Ziemlich unerwartet, zeichnet sich nun jedoch eine Wende ab: Die Reisebranche erlebt derzeit ihr Comeback. Ein Blick in die Reservierungssysteme zeigt: Mit dem weitgehenden Ende des deutschen Lockdowns hat nicht nur die Zahl der Urlaubsbuchungen fast wieder das Niveau von 2019 erreicht. Auch Unternehmen schicken ihre Beschäftigten bereits wieder häufiger auf Geschäftsreisen als noch vor vier Wochen. Persönliche Treffen ergänzen immer öfter den virtuellen Austausch. Zu Gunsten der großen Netzwerkairlines: Sie leben von Vielfliegern im Auftrag ihrer Firmen. Diese Kunden sind in der Regel bereit, teurere Tickets zu buchen. Und sie kommen in regelmäßigen Abständen wieder. Ein signifikanter Rückgang hätte demnach massive Folgen.

Die Zahl der Geschäftsreisenden bei den großen Airlines wie Lufthansa dürfte mittelfristig weniger stark zurückgehen als noch vor wenigen Monaten angenommen: „Wir gehen inzwischen davon aus, dass der Rückgang eher bei zehn als 20 Prozent liegt“, sagte Lufthansa-Vertriebschef Stefan Kreuzpaintner im Juni 2021 der WirtschaftsWoche. Eine aktuelle Umfrage des Verbands Deutsches Reisemanagement stützt seine Vermutung: Schon jetzt wollen 76 Prozent der Unternehmen die Geschäftsreisen wieder aufnehmen.

Fazit: Die Geschäftsreise ist nicht tot, sie schwächelt, sie wird vielleicht seltener, aber aussterben wird sie nicht.

5. Corona als Digitalisierungs-Schub

Konzerte auf der Couch genießen, Spieleabend per Zoom, Yoga per Youtube, Konferenzen online besuchen. „Die Coronakrise hat die Digitalisierung unserer Zusammenarbeit um mindestens 15 Jahre nach vorn gebracht“, sagte Stefan Rief, Direktor beim Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart, und stimmte damit in den Chor derjenigen ein, die Corona als den Digitalisierungsbeschleuniger schlechthin feierten.

Vor allem Schulen sollten davon profitieren, Corona für die Digitalisierung der Schulen ein Katalysator sein. Denn bis 2019 lief die Digitalisierung dort sehr schleppend. Sie hing oft davon ab, ob sich im Kollegium jemand persönlich engagierte. Der „Digitalpakt Schule“ sollte 2019 einen Anstoß geben. Im Coronajahr 2020 folgten dann „Sofortprogrammen“, die den 5-Milliarden-Euro-schweren „Digitalpakt“ um weitere 1,5 Milliarden Euro aufstocken sollten.

Doch in der Praxis genutzt wurde dieser gewünschte Bildungs-Booster bislang offensichtlich kaum, wie die WirtschaftsWoche bereits im Mai berichtete: So haben beispielsweise nur vier Länder laut Bundesbildungsministerium (BMBF), das auf „vorläufige Angaben“ verwies, überhaupt Geräte angeschafft: Sachsen führte demnach mit 21.524 Tablets und Laptops, gefolgt von Niedersachsen (16.176 Geräte), Hessen (2368) und Nordrhein-Westfalen, wo 862 angeschaffte Geräte auf 2,49 Millionen Schülerinnen und Schüler kommen.

Die übrigen zwölf Länder gaben laut BMBF als Bestellgröße „0“ an – „sofort“ geht anders. (Stand Mai 2021). Weitere 500 Millionen Euro aus dem vermeintlichen Turbo-Programm stehen seit November 2020 bereit, damit Schulen IT-Administratorinnen und -Administratoren einstellen und ihre digitale Technik verbessern können. Doch von den Ländern sind zum Stichtag 31. Dezember „bisher weder Mittel abgerufen noch gebunden“ worden, teilte das BMBF auf WirtschaftsWoche-Anfrage im Mai mit.

Digitalisiertere Schulen durch Corona? Eher nicht. Ähnlich sieht es in der deutschen Wirtschaftswelt aus. Trotz zahlreicher Initiativen ist der digitale Durchbruch erneut nicht gelungen. Neue Studienergebnisse, die der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) kürzlich veröffentlicht hat, zeigen, dass sich viele gerne digitaler bewegen würden, dabei aber auf Hürden stoßen. Obwohl die Coronapandemie die Digitalisierung im Eiltempo vorangebracht hat, herrscht bei vielen noch Nachholbedarf.

Auch die IHK-Digitalisierungsumfrage 2021 unter knapp 3500 Firmen besagt: Die meisten Unternehmen sind in den vergangenen Jahren bei der Digitalisierung kaum vorangekommen. Demnach geben sie sich diesbezüglich nur die Schulnote 2,9 – das ist lediglich eine geringfügige Verbesserung gegenüber 2017 (Note 3,1). Zwar ist es dem Gros der Industrie gelungen, den Betrieb während der Coronapandemie aufrechtzuerhalten, der vermeintliche Digitalisierungsschub aber hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Viele Projekte wurden auf Eis gelegt, der Rückstand der deutschen Wirtschaft ist sogar noch gewachsen.

Auch eine Umfrage von McKinsey in 19 europäischen Ländern zeigt: Verglichen mit den europäischen Nachbarn bildet Deutschland das Schlusslicht bei der Nutzung von digitalen Angeboten. „Die digitale Corona-Dividende hat ihren Höhepunkt erreicht“, sagt Gérard Richter, Leiter von McKinsey Digital.

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Einen fehlenden Willen bewies auch so manches Gesundheitsministerium. Softwareprobleme und Fax- statt Mailverkehr erschwerten beispielsweise die saubere Meldung von Infektionszahlen. Nicht unbedingt, weil es an einem digitalen System gefehlt hätte, das war mit dem „Deutschen Elektronischen Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz“ (DEMIS) durchaus verfügbar, wurde aber einfach nicht genutzt. Dabei hatten Bund und Länder während der Pandemie mit dem „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ beschlossen, die Gesundheitsämter technisch und digital zu stärken.

Nun gibt es eine Frist: Bis Ende 2022 soll DEMIS nun in allen Gesundheitsbehörden verfügbar sein. Mit insgesamt 850 Millionen Euro soll der Öffentliche Gesundheitsdienst insbesondere im Bereich des Infektionsschutzes digitalisiert werden, etwa, indem einheitliche Systeme und Tools aufgebaut werden. Ob das tatsächlich erfolgreich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten.

Die Arbeitsweise und -abläufe in Regierung und Verwaltung hätten sich kaum verändert, meint Stefan Heumann, Vorstandsmitglied der Stiftung Neue Verantwortung. Er sieht keinen Fortschritt in der Digitalisierung. „Wir sind bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems wirklich weit, weit zurück“, meinte jüngst auch der Charité-Vorstandschef Heyo Kroemer. Der Grund: fehlender Veränderungswillen. Es gebe einflussreiche Mitspieler – gerade in den Strukturen der Selbstverwaltung, die kein Interesse daran hätten, dass mehr digitalisiert werde.

Fazit: Corona hat unsere Welt digitaler gemacht – womöglich aber vor allem im Privaten, für eine gewisse Zeit. Eine Digitalisierungsrevolution sieht aber anders aus.

Mehr zum Thema: Das Märchen von der Digitalisierung

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