Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat angesichts der Energiekrise vor flächendeckenden Stromausfällen in Deutschland gewarnt. „Die Gefahr eines Blackouts ist gegeben“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Welt am Sonntag“. Die Vorbereitung auf echte Krisensituationen müsse verbessert werden. Experten halten das deutsche Stromnetz allerdings für gut gewappnet. „Die Angst ist zu einem großen Teil Panikmache“, sagte Energieexperte Christoph Maurer vom Beratungsunternehmen Consentec dem Fernsehsender n-tv. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht grundsätzliche eine hohe Versorgungssicherheit.
Landsberg warnte konkret vor der Gefahr einer „Überlastung des Stromnetzes – etwa wenn die 650.000 in diesem Jahr verkauften Heizlüfter ans Netz gehen, sollte die Gasversorgung ausfallen“. Auch feindliche Hackerangriffe seien ein realistisches Szenario. „Wir können flächendeckende Stromausfälle nicht ausschließen“, sagte er. Für diesen Fall sei Deutschland ungenügend gerüstet.
Er forderte die Bürger auf, die Empfehlungen des Bundes zum Katastrophenschutz ernst zu nehmen und Wasser sowie Lebensmittel im Haus zu haben. Bei einem großflächigen Stromausfall „läuft kein Wasser, man kann nicht tanken, nach zwei Tagen kann man sein Handy nicht mehr laden“, beschrieb er.
Ein Stromnetz-Stresstest der Bundesregierung kam kürzlich zu dem Ergebnis, „dass stundenweise krisenhafte Situationen im Stromsystem im Winter 22/23 zwar sehr unwahrscheinlich sind, aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden können“. Dabei ging es um ein Extrem-Szenario, in dem wegen Gasmangels ein Viertel bis die Hälfte der Gaskraftwerke in Süddeutschland ausfallen, zugleich anhaltendes Niedrigwasser den Nachschub für Kohlekraftwerke ausbremst, französische Atomkraftwerke weiter außer Betrieb sind und viele Heizlüfter gleichzeitig genutzt werden.
Maurer erklärte bereits am Mittwoch, einen echten Blackout könne man niemals komplett ausschließen. „Mit Blick auf den kommenden Herbst und Winter müssen wir uns darum allerdings nicht primär sorgen“, sagte er. Wenn überhaupt, gehe es wohl eher darum, dass geplant für kurze Zeiträume bestimmte Städte oder Stadtteile vom Netz genommen würden. Echte Blackouts, also großflächige, langfristige Stromausfälle, seien meist nicht davon getrieben, dass zu wenig Strom im System sei.
Wie beim Gas, so beim Strom? – Sorgen um Knappheit im Winter
Genau kann das noch niemand sagen. Eine erst vor wenigen Tagen vom Wirtschaftsministerium veröffentlichte Analyse zur Stromversorgung kommt zwar zu dem Ergebnis, „dass ein sicherer Betrieb des Elektrizitätsversorgungsnetzes im Winter 2022/23 gewährleistet ist“. Doch so ganz traut man dem wohl nicht. Denn das Haus von Robert Habeck (Grüne) gab bereits einen zweiten Stresstest in Auftrag, bei dem Experten die Belastbarkeit der deutschen Stromversorgung unter „weiter verschärften Bedingungen“ – noch weniger Gaslieferungen, noch weniger Atomstrom aus Frankreich – prüfen und modellieren sollen.
Energieexperten, die von der Deutschen Presse-Agentur befragt wurden, zeigten sich allerdings überwiegend recht zuversichtlich, dass das Netz der Belastungsprobe gewachsen sein wird. Tobias Federico, Geschäftsführer beim Beratungsunternehmen Energy Brainpool, sagte: „Ich persönlich bereite mich nicht auf einen Blackout vor.“ Die Fachleute erwarten trotz der Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke zum Jahresende im Winter keine großen Engpässe beim Strom, auch weil Steinkohlekraftwerke aus der Reserve geholt würden.
Christoph Maurer vom auf Energie spezialisierten Berater Consentec hält die Lage für angespannt, aber grundsätzlich in einem normalen Winter beherrschbar. Vorsichtiger gab sich Thorsten Lenck von Agora Energiewende: „Nach unseren bisherigen Analysen ist es durchaus möglich, dass es im Winter in einigen Stunden knapp werden könnte.“
Mindestens vier, wenn man den Experten glauben darf: die massiven Probleme Frankreichs mit seinen Akw, mögliche Wetterextreme, die Versorgungslage der Gaskraftwerke und das Verhalten der Verbraucher.
Einer der größten Risikofaktoren ist ausgerechnet das Nachbarland Frankreich. Dort steht ein großer Teil der Kernkraftwerke gerade nach Entdeckung kleiner Risse im Notkühlsystem oder wegen Wartungsarbeiten still. Gelinge es nicht, genügend dieser Atomkraftwerke rechtzeitig wieder ans Netz zu bringen, könne dies aufgrund der europäischen Vernetzung zur Herausforderung für die deutschen Versorger werden, warnten Lenck und Maurer. Besonders kritisch könne es in einem kalten Winter werden, weil in Frankreich viel mit Strom geheizt werde.
Zweites Risiko: Wetterkapriolen. Besonders kritisch kann eine „Dunkelflaute“ sein – mehrere Tage mit wenig Wind- und zugleich kaum Solarstrom. Passiere das in Deutschland und Frankreich gleichzeitig und komme dann noch eine Kältewelle, sei das bedenklich, so Federico.
Drittes Risiko: die Versorgung der Gaskraftwerke mit ausreichend Brennstoff. Zwar machen sie nur einen recht kleinen Teil der Kapazitäten in Deutschland aus. Doch bei Lastspitzen können sie entscheidend sein, um die Netzstabilität zu sichern, betonte Lenck. 2021 stammten gut 15 Prozent der insgesamt erzeugten Elektrizität aus der Gasverbrennung – nun soll wegen der unsicheren russischen Lieferungen vorhandenes Gas aber mehr zum Heizen reserviert werden.
Und schließlich das schwer vorherzusagende Verbraucherverhalten. In den letzten Wochen hat die Nachfrage nach elektrischen Heizgeräten – vom Heizlüfter bis zur Konvektorheizung – deutlich zugenommen. Würde wirklich in großem Umfang damit geheizt, könnte das die Stromnetze in die Knie zwingen, warnte Maurer: „Das ist ein Szenario, das man fast um jeden Preis verhindern muss.“ Denn es würde die Möglichkeiten des Stromnetzes sowohl bei der Erzeugung als auch beim Transport überfordern. Die wachsende Zahl von E-Autos sei bisher noch kein Problem, meinte der Experte.
Sparsamer Umgang mit Strom empfiehlt sich schon mit Blick auf den eigenen Geldbeutel. Wie die Gas- sind auch die Strompreise zuletzt drastisch gestiegen. Im Juni lagen sie laut den Vergleichsportalen Verivox und Check24 um rund 30 Prozent über dem Vorjahresmonat. Der Wegfall der EEG-Umlage verschaffe den Verbrauchern etwas Entlastung, betonte Verivox-Energieexperte Thorsten Storck - doch sei dies wohl nur eine Atempause. „Spätestens zum Jahreswechsel rechnen wir erneut mit flächendeckenden Strompreiserhöhungen für Millionen Haushalte.“
Jedoch spricht nach Einschätzung der Branchenkenner vieles dafür, dass der Anstieg nicht so dramatisch sein dürfte wie beim Gas. „Der Strompreis wird sicher auch steigen, aber nicht ganz so heftig“, so Florian Stark von Check24. Die Entwicklung an den Strombörsen sei weniger drastisch. Zudem machten Kosten für Beschaffung und Vertrieb bei Strom „nur“ 44 Prozent des Preises aus, bei Gas über 60 Prozent.
Etliche Betriebe fürchten indes, die Mehrbelastung im Einkauf nicht mehr lange tragen zu können. Der Verband der Energie-Abnehmer (VEA) sprach jüngst von einem durchschnittlichen Strompreiszuwachs von fast 62 Prozent seit Januar. Die Lage sei mittlerweile existenzgefährdend.
Im Winter wird dies doppelt wichtig, um das Netz stabil zu halten und das Portemonnaie zu schonen. Wo und wann immer im Alltag Beleuchtung oder durchlaufende Maschinen nicht unbedingt nötig sind, lässt sich darauf verzichten. Immer wieder gibt es auch den Hinweis, nicht regelmäßig genutzte Elektrogeräte oder Unterhaltungselektronik ganz aus der Steckdose zu ziehen, statt sie im Standby-Modus zu lassen.
Außerdem könnte die Kraft-Wärme-Kopplung – die parallele Erzeugung von Strom und Wärme aus ein und demselben Brennstoff – die Effizienz erhöhen. Für Verbraucher gibt es etwa Mini-Blockheizkraftwerke. Auch in der Industrie kann der überschüssige Anteil heißen Dampfes, der nicht für die Bewegung einer Turbine und danach zum Generator-Betrieb nötig ist, weiter verwendet werden. Der Wirkungsgrad ist dann höher.
Die Werte für Deutschland verbessern sich allmählich, doch die Energiewende bleibt eine längerfristige Aufgabe. Nach Daten des Umweltbundesamts (UBA) nahm die Erzeugung von Strom aus Quellen wie Wind-, Solar- und Wasserkraft sowie Bioenergie und Geothermie in der ersten Jahreshälfte um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu.
Insgesamt kamen über 137 Milliarden Kilowattstunden an elektrischer Energie zusammen. Damit erzielten regenerative Träger Schätzungen zufolge rund 49 Prozent am Brutto-Stromverbrauch im Inland – 8 Prozentpunkte über dem Niveau von Ende 2021. Ähnliche Zahlen meldete jüngst der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) drängt vor diesem Hintergrund weiter auf einen längeren Betrieb der verbliebenen drei Kernkraftwerke. „Habeck und die Ampel riskieren bewusst einen Blackout“, sagte er der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die Entscheidung, zwei der drei verbliebenen Kernkraftwerke nur in Reserve zu halten, sei „ideologisch getrieben und verantwortungslos“.
Zank um Atomkraftwerke
Habeck hatte auf der Grundlage des Stresstests vorgeschlagen, die zwei süddeutschen Kraftwerke für den Fall von Engpässen noch bis Mitte April einsatzbereit zu halten: Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg. Eigentlich sollten alle deutschen Atomkraftwerke zum Jahresende endgültig vom Netz gehen. Eine generelle Laufzeitverlängerung lehnte Habeck ab, was unter anderem für Streit mit der FDP sorgte.
„Die Ampel hofft auf einen milden Winter, aber wenn es ein kalter Winter wird, hat Deutschland ein faustdickes Energieproblem“, warnte Söder. „Es wird zu Abschaltungen kommen - und das wird existenzgefährdend für unsere Betriebe.“ Wenn man die Kernkraftwerke abschalte, fehle Strom für zehn Millionen Haushalte.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dagegen versprach mit Blick auf die Energiekrise: „Wir kommen da durch.“ Die Menschen in Deutschland spürten, dass sie in einer ernsten Zeit lebten. „Wir haben uns aber vorbereitet“, versicherte der Kanzler in seiner wöchentlichen Videobotschaft. „Wir werden uns als Land unterhaken, weil wir ein solidarisches Land sind.“
Deutschland sei vorbereitet dafür, dass Russland seine Gaslieferungen wegen des Kriegs gegen die Ukraine weitgehend einstelle. Nach Wartungsarbeiten und einem angeblichen technischen Defekt fließt bereits seit vergangener Woche über die Leitung Nord Stream nichts mehr nach Deutschland. Die Bundesregierung stellt sich darauf ein, dass das auch so bleibt. „Wir haben uns aber vorbereitet“, sagte Scholz und verwies auf den Bau von Flüssiggas-Terminals an den norddeutschen Küsten, den Füllstand der Gasspeicher, die Nutzung von Kohlekraftwerken und notfalls auch weiter Atomkraftwerken.
Grünen-Chefin Ricarda Lang rechnet mit Zustimmung ihrer Parteibasis zu Habecks Vorgehen. „Ich bin zuversichtlich, dass der Parteitag den nun eingeschlagenen Weg mittragen wird“, sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Die Mitglieder merken, dass wir es uns nicht leicht gemacht haben.“ Sie betonte, die Reserve solle klar zeitlich begrenzt und eine einmalige Sache sein. Für den Herbst und Winter 2023/24 könne Deutschland mit Gas aus anderen Quellen und erneuerbaren Energien vorsorgen. Einen Wiedereinstieg in die Atomkraft werde es nicht geben.
Auf die Frage, ob die Grünen die Verantwortung für einen Blackout übernähmen, antwortete die Parteichefin: „Die ganze Regierung trägt gemeinsam Verantwortung in dieser Energiekrise. Es werden zahlreiche Maßnahmen ergriffen, die Blackouts verhindern werden – abgesichert durch die Einsatz-Reserve als Ultima Ratio.“
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