Kemmerich zurückgetreten FDP drückt Reset-Knopf für Thüringen

„Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen mit sofortiger Wirkung“, lässt Thomas Kemmerich am Samstagnachmittag mitteile Quelle: dpa

Die oft so zerstrittenen GroKo-Partner Union und SPD raufen sich zusammen – gegen die AfD und mit den Liberalen. Jetzt liegt der Ball wieder in Thüringen nachdem FDP-Ministerpräsident Kemmerich nun zurückgetreten ist.

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Es ist eine ausgeklügelte Choreographie zwischen Berlin und Thüringen. In dem Moment, in dem in der Hauptstadt der Koalitionsausschuss auseinandertritt, verkündet Thüringens Ministerpräsident: Ich schmeiße sofort hin. Es ist der Versuch, in einer brenzligen Lage den Druck aus dem Kessel zu nehmen – im Land wie in der Koalition im Bund, die sich mal wieder in einer Krise zusammenrauft. Mit der Erklärung des FDP-Politikers Thomas Kemmerich ist der Reset-Knopf gedrückt, der Neustart erzwungen – doch gelöst ist gar nichts.

Vor allem in Thüringen sind nach dem Eklat um die Ministerpräsidentenwahl die entscheidenden Fragen weiter offen. Und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sieht sich nach den vergangenen Tagen nach wie vor mit kritischen Fragen aus den eigenen Reihen konfrontiert, ob sie die richtige Kanzlerkandidatin sein könnte.

„Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen mit sofortiger Wirkung“, lässt Kemmerich am Samstagnachmittag mitteilen. Damit erfüllt er eine Bedingung der großen Koalition im Bund - bereits Minuten bevor diese offiziell verkündet ist: Nämlich „die einzige richtige Konsequenz“ zu ziehen und noch an diesem Tag zurückzutreten. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans bestätigt später vor dem Kanzleramt, man habe direkten Kontakt mit FDP-Chef Christian Lindner in dieser Frage gehabt.

Angekündigt hatte Kemmerich seinen Schritt bereits am Tag nach dem Eklat im Thüringer Landtag, als er mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Doch eingereicht hatte er das Rücktrittsschreiben erstmal nicht - bis Samstag.

Den Reset-Knopf drückt auch die große Koalition in Berlin. Gemeinsam nennen CDU, CSU und SPD eine Neuwahl in Thüringen „erforderlich“. Ein so deutliches Bekenntnis hatte die CDU noch am Tag zuvor vermieden. Vor einer Neuwahl solle sogar noch ein neuer Ministerpräsident gewählt werden, damit der makelbehaftete Kemmerich auch nicht einen Tag länger als nötig im Amt bleiben muss. Denn laut Thüringer Landesverfassung ist ein Ministerpräsident verpflichtet, die Geschäfte bis zum Amtsantritt seines Nachfolgers fortzuführen.

Es ist der Versuch eines Schlussstrichs aus Berlin und Thüringen, der kein Schlussstrich sein kann. Denn wie es in Thüringen weitergeht, steht in den Sternen. Wer kann der Übergangs-Ministerpräsident sein, der sowohl von Rot-Rot-Grün als auch der Thüringer CDU getragen wird? Wäre SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee so ein Kandidat? Oder wird der im Land beliebte und am Mittwoch bei der Ministerpräsidenten-Wahl gescheiterte Bodo Ramelow von der Linkspartei doch noch gewählt? Wie kommt die für eine Neuwahl nötige Zwei-Drittel-Mehrheit zustande?

Den Druck auf Kramp-Karrenbauer dürfte die Entscheidung Kemmerichs nur geringfügig genommen haben. Denn selbst wenn es zu der von ihr schnell geforderten Neuwahl in Thüringen kommen würde: In der für AKK zentralen Frage nach der nächsten Unions-Kanzlerkandidatur haben sich die internen Zweifel an ihrer Eignung in den vergangenen Tagen wieder verstärkt.

Mögliche interne Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur wie etwa Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet oder Gesundheitsminister Jens Spahn werden Kramp-Karrenbauers Performance weiterhin genau beobachten. Sie hat höchstens elf Monate Zeit, das Bild gerade zu rücken – bis auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember über die Kandidatur entschieden werden soll.

CSU-Chef Markus Söder war nach dem Eklat in Thüringen der erste Unions-Spitzenpolitiker, der sich öffentlich für eine Neuwahl ausgesprochen hatte – noch vor der CDU. Ihm geht es um zweierlei: Klare Kante zeigen im Kampf gegen die AfD, vor allem gegen Björn Höcke, und alles vermeiden, was die GroKo in Berlin belastet.

Eines macht die Koalition am Samstag jedenfalls klar: Bei CDU, CSU und SPD gilt „für alle Ebenen“, dass Regierungsbildungen und politische Mehrheiten mit den Stimmen der AfD ausgeschlossen sind. Das ist eine Warnung auch an den Thüringer CDU-Landesverband. Ein solches Bekenntnis hatte vor allem die SPD vehement gefordert. „Wer mit Faschisten paktiert in diesem Land, darf keine Verantwortung übernehmen“, hatte Esken gesagt.

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Vor dem Berliner Krisentreffen machte die SPD das zur Bedingung für den Koalitionspartner - danach sind alle ihre Forderungen erfüllt. Die Entscheidung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), den wegen einer Gratulation an Kemmerich umstrittenen Ost-Beauftragten Christian Hirte (CDU) abzuberufen, dürfte es der SPD-Spitze erleichtert haben, am Samstag von großer Einigkeit der Koalition zu sprechen.

Es ist eine neue Situation für die frisch gewählten Chefs der Sozialdemokraten: Wer hätte im Dezember bei ihrer Wahl gedacht, dass ausgerechnet die zerstrittene SPD Kramp-Karrenbauer einmal vorwerfen kann, ihren Laden nicht im Griff zu haben.

Esken und Walter-Borjans bemühen sich jetzt, nicht wieder mit einem GroKo-Aus zu drohen. Eine Lehre aus dem Wahlkampf um den SPD-Vorsitz, wo sie genau dies angedeutet hatten, dann aber nicht wahr machen konnten. Jetzt machen sie klar: „Wir taktieren hier nicht.“ Es gehe darum, einen Dammbruch aufzuhalten. „Dafür wird die SPD jetzt Bollwerk sein und nicht für ihre eigenen Ziele.“

Fast könnte man sagen: Die große Koalition wirkt mit den GroKo-Kritikern Esken und Walter-Borjans plötzlich stabiler denn je. Den Sturm Thüringen-Krise scheint sie zumindest erst einmal überstanden zu haben.

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