Tauchsieder
Angela Merkel geht. Was bleibt ist ein orientierungsloses Land. Quelle: dpa

Das Superwahljahr und seine Gewinner

Bundeskanzlerin Angela Merkel hinterlässt ein orientierungsloses Land. Punkten jetzt Visionäre oder Gesinnungsfeste? Lotsengleiche oder Schneidbereite? Ein Charaktertyp verspricht zwei Parteien besonders viel Erfolg.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Die CDU nach den ersten beiden Landtagswahlen im Superwahljahr: Man darf die bundespolitische Bedeutung nicht überschätzen. Gewiss, es fehlte der Rückenwind aus Berlin. Natürlich haben uns die Selbstbereicherungsskandale auf den letzten Metern geschadet. Aber nein, die Ergebnisse lassen selbstverständlich keine Rückschlüsse auf die Frage des Kanzlerkandidaten der Union zu. Die SPD? Ist geschwächt. Ist gestärkt. Kann noch Wahlen gewinnen... Mit der FDP ist wieder zu rechnen! An den Grünen führt 2021 kein Weg vorbei! Die AfD? Erschreckend. Schlimm. Aber wenn die Impfkampagne im Mai erst mal anhebt... Armin Laschet oder Markus Söder? Annalena Baerbock oder Robert Habeck? Es bleibt dabei: Wir werden uns zwischen Ostern und Pfingsten... Und Olaf Scholz? Wenn die Deutschen erst mal merken, dass Angela Merkel im Herbst nicht mehr zur Bundestagswahl...

Ja – was eigentlich dann? Öffnet sich das politische Spielfeld plötzlich im Sommer? Muss die Union, herausgefordert von einem helmutschmidthaften Sozialdemokraten, noch einmal um ihre Hegemonialstellung fürchten? Oder reichen die Grünen die SPD nach hinten durch, bis zuletzt sogar eine revitalisierte FDP ihr noch nahe kommt? Unmöglich ist weder das eine noch das andere. Der Wahlkampf verspricht als Strategiewettstreit, Charakterspiel und Kampagnenspektakel viel Spannung und Unterhaltung. Und abseits der erwartbar routinierten Bewertungen in Stuttgart, Mainz und Berlin lassen die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erste Rückschlüsse auf die Bundestagswahl zu: Wer gewinnt im Superwahljahr aus welchen Gründen?

Vertrauen zählt doppelt in Krisenzeiten. Die Deutschen wählen gern das Bewährte und Verlässliche, das Stabile und Beständige („Keine Experimente!“). Sie wissen um den Veränderungsdruck (China! Digitalisierung! Klimawandel!) – und wählen, wer sie davon entlastet. Das ist nur auf den ersten Blick paradox, jedenfalls nicht schizophren und zeugt schon gar nicht von Weltblindheit, Wohlstandssattheit oder postmaterieller Bequemlichkeit.



Statt dessen wollen sich die Deutschen, frei nach Arnold Gehlen, vom Staat „konsumieren lassen“, also die Versprechen seiner Institutionen – (Rechts-)Sicherheit, soziale Stabilität, generationsübergreifende Kontinuität – als basale „Grammatik“ eines freien, gelingenden Lebens genießen: Arbeit, Freizeit, Familie, Freunde, Reisen, Konsum. Im Gegenzug versichern die Deutschen dem Staat, sich gleichsam auf dem festen Boden der konsumierten Sicherheit aufs offene Meer zu wagen, sich also Veränderungen nicht zu verschließen. Spitzenpolitiker und -politikerinnen müssen deshalb nicht nur Wähler, sondern auch den Staat und seine Institutionen repräsentieren.

Es reicht nicht, dass man ihnen Kompetenz zuschreibt; sie haben auch als „Staatsmänner“ und „Staatsfrauen“ zu bestehen. Das vor allem ist es, was man unter „Amtsbonus“ versteht. Winfried Kretschmann und Malu Dreyer profitieren davon. Aber wer profitiert davon im Bund – nach Angela Merkel?

Die Union? Nicht unbedingt. Jedenfalls dann nicht, wenn sie mit Friedrich Merz bedauerte, ihren „konservativen Kern“ verloren zu haben. Denn als so veränderungsfähig erweisen sich die Deutschen eben doch, dass es für die „Bürgerlichen“ kein Zurück zu „traditionellen Werten“ und „marktliberalen Wurzeln“ gibt. Welche wären das und wo würden sie liegen? Eine unionsgeführte Koalition, die heute der Atomkraft das Wort redete und „Straße vor Schiene“ propagierte, die das Problem des Klimawandels marginalisierte und Schwulen Rechte vorenthielt, die gegen den Mindestlohn wetterte und mitten in der Krise Haushaltsdisziplin anmahnte – diese Koalition hätte nicht mal mehr bei ihren Stammwählern eine Chance.

Das große Problem der Union in diesem Wahljahr: Sie ist, anders als bisher, nicht mehr Deutschlands Partei der gelingenden „Hintergrunderfüllung“. Als Chef oder Chefin eines quasi überparteilichen Kanzlerwahlvereins muss man nicht zwingend alle anfallenden Probleme lösen. Wohl aber laufend annoncieren, alle anfallenden Probleme nach bestem Wissen und Gewissen zu bewirtschaften. Genau das ist Angela Merkel und der Union in der Eurokrise, Flüchtlingskrise und Coronakrise nicht gelungen. Zur Erinnerung: Merkel war in ihren ersten Regierungsjahren als postheroische Kanzlerin erfolgreich, weil sie nicht die Alleswisserin mimte, die Magierin, die Gordische Knoten durchtrennen kann.

Und sie agiert eminent glücklos, seit nachrichtengetriebene „Alternativlosigkeiten“ ihr die Regierungsgeschäfte führen: Bankbilanzen, Flüchtlingsströme, Inzidenzzahlen. Die CDU muss sich paradoxerweise wieder profilieren als Partei, die dafür sorgt, dass die Deutschen sich nicht allzu viel sorgen. Sie muss, als Partei der Parteilosigkeit, den Wunsch der (meisten) Deutschen erfüllen, dass bei allen Veränderungen klar ist, dass sich nicht allzu viel ändert – dass der Laden wieder (weiter) läuft.

Olaf Scholz steht für eine Fortsetzung des Merkel-Stils

Also doch Olaf Scholz? Nie und nimmer. Ganz gleich, ob die Coronakrise sich in den nächsten Wochen verstetigt oder nicht, ob die Impfkampagne im Sommer abhebt oder endgültig verpatzt wird – der Vizekanzler wird keinen Wind unter die Flügel bekommen. Denn Scholz steht, mehr noch als Armin Laschet und Markus Söder, für eine Fortsetzung des Merkel-Stils: Er gönnt, wie die Kanzlerin, dem politischen Gegner jederzeit, sich im Glanz polierter Weltanschauungen und avancierter Partikularziele zu sonnen, um den Deutschen als neutraler, quasipräsidialer Politschiedsrichter zu erscheinen, der über allen Händeln steht – und seinem Regierungshandeln ausdrücklich keine Weltanschauung (und keine Gefühle) zugrunde legt.

Insofern verkörpert er, wenn auch gesellschaftspolitisch deutlich progressiver als Merkel, das „Ruhe-Regiment“ der vergangenen Jahre, „mit vornehmer Unangreifbarkeit, gekoppelt mit Risiko-Unlust“, schreibt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte in einem Essay für die WirtschaftsWoche: Wer sich „für die Fortsetzung der Merkel-Politik“ einsetze, finde in Scholz „einen sehr mächtigen Aspiranten“.

An dieser Fortsetzung sind die Deutschen aber nicht interessiert; ihr „Bedarf am ‚Auf Sicht fahren‘ ist aufgebraucht“, schreibt Korte. Zu Recht. Er ist überzeugt, dass das Superwahljahr diejenigen belohnen wird, die sich als „Krisenlotsen“ und „Spielmacher der Neuen“ zu erkennen geben.

Die Pandemie habe „mit aufklärerischer Präzision“ gezeigt, wie groß der Bedarf an Reformen in Deutschland sei, etwa was die Digitalisierung der Gesellschaft anbelangt: „Insofern reicht es für die Politik nicht mehr, nur auf Reparatur am Wohlfahrtsstaat zu setzen; sie muss eine Führungserzählung intonieren.“ Die Bereitschaft, ihr zuzuhören, sei riesig, seit „lähmende Bürokratie, die Unfähigkeit zum Pragmatismus, hoher politischer Moralismus gepaart mit mangelnder Entschlussfreudigkeit“ ein „gekränktes Selbstbild der Deutschen“ speisen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass CDU-Chef Armin Laschet bereits seit vielen Monaten ein „Modernisierungsjahrzehnt“ verspricht: ein Digitalministerium, ein „Belastungsmoratorium“ für die Wirtschaft, eine Bildungsoffensive. Und es überrascht auch nicht, dass nach den Grünen nun auch die Liberalen Aufwind verspüren: Beide Parteien wissen nicht nur deshalb besser als Union und SPD von der Zukunft zu erzählen, weil sie das Land zuletzt nicht mitregiert haben – sondern weil sie mit „Klima“ und „Verkehrswende“ einerseits sowie „Digitalisierung“ und „Bürokratieabbau“ andererseits für zentrale Innovationsziele stehen, die die politische Diskussion in Deutschland in den Jahren 2019 und 2020 nachhaltig geprägt haben. „Klima“, „Digitalisierung“ und „Bildung“ werden die innenpolitische Agenda des Wahlkampfs „positiv“ bestimmen – Steuersenkung und Umverteilung nur als „negative Narrative“ zur Denunziation des politischen Gegners taugen.

Die FDP hinkt den Grünen allerdings stilistisch noch weit hinterher. Denn wenn es stimmt, dass die Coronakrise vor allem „Parteien der politischen Mitte“ prämiert, „die nicht nur tentativ agieren, sondern öffentlich lernend und fehlertolerant Zuversicht vermitteln“ (Korte), dann sind die Laschets und Habecks mit ihren Suchbewegungen und Bedenklichkeiten gegenüber den Entschiedenheitsgesten und Dekretierformeln der Söders und Lindners inzwischen im Vorteil: Fragezeichen schlägt Ausrufezeichen.

Und Irritationsfähigkeit die Simulation von Gewissheit. Belohnt wird eine Politik auf Probe und als Beta-Version, die sich dem trial and error und dem iterativen Problemlösen verpflichtet weiß: eine kybernetische Politik, verstanden als (sich) optimal steuernde Informationsverarbeitung in einer komplexen, dynamischen Welt.

Das interessiert WiWo-Leser heute besonders

Geldanlage Das Russland-Risiko: Diese deutschen Aktien leiden besonders unter dem Ukraine-Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Börsen. Welche deutschen Aktien besonders betroffen sind, zeigt unsere Analyse.

Krisenversicherung Warum Anleger spätestens jetzt Gold kaufen sollten

Der Krieg in der Ukraine und die Abkopplung Russlands von der Weltwirtschaft sind extreme Inflationsbeschleuniger. Mit Gold wollen Anleger sich davor schützen – und einer neuerlichen Euro-Krise entgehen.

Flüssigerdgas Diese LNG-Aktien bieten die besten Rendite-Chancen

Mit verflüssigtem Erdgas aus den USA und Katar will die Bundesregierung die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland mindern. Über Nacht wird das nicht klappen. Doch LNG-Aktien bieten nun gute Chancen.

 Was heute noch wichtig ist, lesen Sie hier

Es ist eine Politik der frühen Merkel, aber ohne Schulterzucken: stark angereichert mit einem normativen Surplus. Gewinnen werden in diesem Superwahljahr Politiker, die ideelle Horizonte aufreißen, bevor sie an die praktischen Grenzen des Machbaren stoßen, die in all ihren Zweifeln zutiefst überzeugt sind von dem, was sie tun – die das Land tatendurstig stabilisieren und lotsengleich Vertrauen erzeugen – und die die Deutschen im Tempus des Futur II zu fesseln wissen: mit einer „Großen Erzählung“ dessen, was wir in zehn Jahren erreicht haben werden.

Mehr zum Thema: Die Arbeitgeber fertigen Olaf Scholz ab, die Grünen werden als Verbotspartei vorgeführt, Armin Laschet biedert sich bei „der Wirtschaft“ an – der Wahlkampf beginnt niederschmetternd niveaulos. Nur einer ragt heraus.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%