Tauchsieder
Quelle: dpa

Die Berliner Realitätsflüchtlinge

Ob Türkei-Deal oder Idlib-Drama, Thüringen oder der Rechtsterrorismus – Deutschland ist nicht auf der Höhe der Zeit, der Welt nicht gewachsen. Man interessiert sich nicht für das, was ist. Sondern für das, was sein soll.

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Max Weber hat sich den idealen Politiker vor gut 100 Jahren noch maskulin und heldisch vorstellen können, als „reifen Menschen“ mit Realitätssinn, der Verantwortung „mit voller Seele empfindet“ und tragische Größe gewinnt, weil er „der Welt gewachsen“ ist, „so wie sie wirklich ist“. Der Erfurter Soziologe lehnte politische „Windbeutel“ ab, die „nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen“ berauschen – und wünschte sich stattdessen stoizistische Führer homerischen Formats, ausgestattet mit einer „Festigkeit des Herzens“, die dem sicheren Scheitern ihres Tuns aus tiefster Überzeugung ein trotziges „Dennoch!“ entgegenschleudern. Allein wer mit „geschulter Rücksichtslosigkeit“ auf die „Realitäten des Lebens“ blicke und fähig sei, die ihn bedrängenden Tatsachen wider seine ethisch-moralischen Überzeugungen „zu ertragen“, so Weber, habe den „‚Beruf‘ zur Politik“.

Seither ist Max Weber oft missverstanden worden – vor allem von denen, die gern von sich annehmen, keine naiven „Gutmenschen“ zu sein. Sie unterstellen Weber eine bipolare Störung, unter der sie selber leiden, wenn sie den blöden „Gesinnungsethiker“ gegen den klugen „Verantwortungsethiker“ ausspielen. Denn natürlich weiß Weber erstens, dass man seine Idealtypen (als Realpersonen) auf den Fluren eines Parlamentes niemals antreffen kann – und zweitens, dass Gesinnung und Verantwortung selbstverständlich „nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen“, sind, „die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann“. Weber wusste: „Politik wird mit dem Kopf, aber ganz gewiss nicht nur mit dem Kopf gemacht“ – und sorgte sich eben deshalb vor denen, die vor lauter Gesinnungsfestigkeit ihre Aufgeregtheit mit „echter Leidenschaft“ verwechselten: Denn „nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns“, so Weber, sondern „eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Kälte“.

Max Weber hat seine Gedanken am 28. Januar 1919 vorgetragen, also inmitten der Polarnächte erbittert geführter Weltanschauungskämpfe zwischen Monarchisten und Republikanern, Landbesitzern und Arbeitern, Katholiken und Wissenschaftlern, Sozialdemokraten und Kommunisten: während der schweren Geburtswehen der ersten deutschen Republik, zwischen Novemberrevolution und bürgerkriegsähnlichen Märzunruhen, zwischen Spartakusaufstand und Münchner Räterepublik – und nur ein paar Tage, nachdem „Bluthund“ Gustav Noske mit Billigung des designierten Reichspräsidenten Friedrich Ebert die Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zur Strecke gebracht hatte. Verglichen damit ist es heute denkbar ruhig in Deutschland, trotz „Halle“ und „Hanau“, ist die Demokratie hierzulande stabil, trotz der vielen Rechtsradikalen, Volksverhetzer und AfD-Brandstifter, ist die Bedrohung der Republik von links marginal, trotz der Revolutionsreflexe und Gewaltfantasien, denen Politiker auf Strategietreffen der Partei „Die Linke“ nachgeben: „Wenn wir das ein(e) Prozent der Reichen erschossen haben…“

Und doch wünschte man sich auch heute Politiker in Berlin, die sich nicht ständig wie Realitätsflüchtlinge aufführten. Das Migrationsdrama an den türkisch-europäischen Grenzen, der Krieg um Idlib, das globalisierungsbedrohliche Corona-Virus, die Thüringer Politprovinzposse und das Gedenken des Bundestags an die mutmaßlich rassistisch motivierte Ermordung von zehn Menschen in Hanau – fast alle Nachrichten dieser Woche, so unterschiedlich sie sind, erinnern einen (auch) daran, dass die Deutschen und ihre Politiker sich ungern, zögerlich, verspätet oder lieber gar nicht der Welt stellen, „so wie sie wirklich ist“. Und dass der vielleicht irritierendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht darin liegt, vormals ausgeblendete Offensichtlichkeiten im Wege ihrer nachholenden Beglaubigung noch einmal und damit endgültig der politischen Bearbeitung (und Verantwortung) zu entziehen – sie zu den historischen Akten zu legen. Wenn etwa Wolfgang Schäuble und Annegret Kramp-Karrenbauer heute konzedieren, man habe den Rechtsterrorismus in Deutschland „zu lange unterschätzt“ und „nicht ernst genug genommen“, so sind das gewiss aufrichtige Antworten, die ein ehrliches Bedauern erkennen lassen. Aber aus politischer Sicht sind es Antworten, die auf eine weltanschaulich fundierte Amtsblindheit schließen lassen und daher vor allem eine Frage provozieren: Was wird den Regierenden als nächstes entgehen?

Mit Blick auf Thüringen ist der Union etwa noch vor vier Wochen entgangen, dass man mit einem Volksverhetzer wie Björn Höcke besser nicht Politik spielt – nur um nach Wochen der Selbstzerlegung doch noch einen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu erdulden, zu dessen Erduldung die Wähler in Thüringen die CDU bereits im Oktober 2019 aufgerufen hatten. Bis heute jagt die Union dem Phantom einer Äquidistanz hinterher, die sie als „Partei der Mitte“ zu den linken und rechten Rändern des politischen Spektrums halten will – weil man sich im Luftschloss der Gesinnungsethik nicht mit ostdeutschen Elementartatsachen beschäftigen muss, die seit Jahren auf der Hand liegen.

Die Welt, wie sie wirklich ist

Aber hey, was soll’s – verschließen wir zur Abwechslung mal die Augen vor der Flüchtlingskrise und vergessen wir alles, wofür wir uns noch vor vier Jahren erwärmt haben: für offene Grenzen, eine Willkommenskultur – und Syrer, die uns dabei helfen, den Fachkräftemangel zu beheben. Armin Laschet, der heute nach CDU-Vorsitz und Kanzlerschaft strebt, ist damals als braver Adjutant von Angela Merkel und innoffizieller Minister für Zuversichtszwang durch die Talk-Show-Republik getingelt, um alle Kritiker des regierungsamtlichen Kontrollverlustes wie politische Rechtsausleger aussehen zu lassen. Und heute? Was wäre, wenn Laschet sich als neuer Frontrunner der CDU stark machte für die Aufnahme von 5000 Kindern und Jugendlichen, denen es seit vielen Monaten ersichtlich schlecht geht in griechischen Aufnahmelagern – in Lagern, deren schiere Existenz den Humanitätsstolz von damals als abstoßend hohle, narzisstische Gratisgeste entlarvt? Wenn also Laschet der Grünen-Chefin Annalena Baerbock gewissermaßen im Vorgriff auf eine schwarz-grüne Koalition beispringen und twittern würde: „5000 Menschen. Das sind wir unserem christlichen Menschenbild schuldig. Der Wertegemeinschaft Europa. Wir schaffen das!“ Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen: Laschets Karriere in der Union wäre beendet.

Oder nehmen wir Horst Seehofer. Der damalige CSU-Chef hat Merkels Politik der offenen Grenzen im Oktober 2015 aus guten Gründen als „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Realität“ interpretiert und eine Begrenzung der Zuwanderung angemahnt. Heute segnet er als Innenminister (!) im Namen der Wiederherstellung von Recht und Ordnung die Suspendierung von Recht und Ordnung ab: Was kümmert mich das geltende Asylrecht, wenn es gilt, das politische Zeichen zu setzen: Wir verstehen Europa künftig als Festung und wissen uns mit Blendgranaten und Tränengas vor denselben „illegalen Zuwanderern“ zu wehren, die wir als „Geflüchtete“ vor vier Jahren noch mitleidsvoll durchgewunken haben?

Oder nehmen wir Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin. Sie plustert sich gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf und droht: „Diejenigen, die die Einigkeit Europas auf die Probe stellen wollen, werden enttäuscht sein. Wir werden die Stellung halten und einig bleiben.“ Ist das noch Realitätsverlust – oder schon Wahn? Als scheiterte eine „europäische Lösung“ nicht seit Jahren, weil etwa Polen und Ungarn die Aufnahme von Migranten verweigern und weil deshalb auch Deutschland die Mittelmeer-Anrainer sehr weitgehend im Stich lässt – um nämlich nicht das Signal zu senden, man gebe eine „europäische Lösung“ auf. Die Situation in Idlib, die Verschärfung des Migrationsdrucks und die heikle Lage, in die sich der Autokrat Erdogan manövriert hat – auch das alles ist seit Monaten bekannt – und blieb von der deutschen Politik dreiaffengleich unbearbeitet.

von Benedikt Becker, Simon Book, Sven Böll, Max Haerder, Cordula Tutt

Die Welt, wie sie wirklich ist? Seit ein paar Jahren gewinnt man nicht mehr den Eindruck, Deutschland erfasse sie. Sondern man gewinnt den Eindruck, Deutschland werde von ihr ereilt, überholt und abgehängt – permanent auf dem falschen Fuß erwischt. Es braucht Donald Trump, der Berlin darüber aufklärt, dass wir für unsere Sicherheit mehr Geld ausgeben müssen. Es braucht Wladimir Putin, der Berlin vor Augen führt, dass Krieg ein faktenschaffendes Mittel der Politik bleibt. Es braucht Xi Jinping, der Berlin verdeutlicht, dass der Wettbewerb der politökonomischen Systeme nicht etwa beendet ist, sondern gerade erst anfängt. Es braucht Emmanuel Macron, damit Berlin endlich anfängt, „Europa“ und die „NATO“ als Reformvorhaben und Gestaltungsaufgaben zu verstehen. Es braucht Greta Thunberg, um Berlin für die dramatischen Folgen des Klimawandels zu sensibilisieren. Es braucht VW-Chef Herbert Diess, damit Berlin sich in Richtung Verkehrs- und Mobilitätswende bewegt. Es braucht das Silicon Valley, damit Berlin auf den Trichter kommt, dass Freiheit und Kontrolle im Datenkapitalismus konvergieren und dass mit der Vermessung des Menschen auch die Demokratie herausgefordert ist. Es braucht Huawei, damit Berlin erfasst, dass die Freiheit der Märkte und des Handels an ideologische Grenzen stoßen kann. Und es braucht Corona, damit Berlin erkennt: Eine dezentrale, regionalisierte Produktionsstruktur, die nicht nur auf Outsourcing, Billigstandorte und (fragile) Lieferketten setzt, hat auch ihre Vorteile.

Kurzum: Deutschland hinterlässt permanent den Eindruck, der Welt nicht gewachsen zu sein, sich der Realität nicht zu stellen, im 21. Jahrhundert irgendeine auch nur halbwegs aktive Rolle spielen zu wollen. Die Regierungspolitiker wähnen sich systemischen Zwängen, globalen Kräften und mächtigen Entwicklungen ausgeliefert und mischen sich desto weniger in die waltende Geschichte ein, je stärker sie sich von ihr bedrängt sehen. Statt dessen ziehen sie sich zurück ins Mittelgebirge der falschen Moral, um die Welt, außerhalb von Raum und Zeit, nach Maßgabe des je augenblicklich Zeitgemäßen und Vorteilhaften zu bemeinen: permanent aufgeregt – und maximal leidenschaftslos. Max Weber nannte sie Windbeutel.

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