Tauchsieder
Quelle: REUTERS

Fetzt Euch – aber richtig!

Zehn Jahre Sarrazin: „Deutschland schafft sich ab“. Fünf Jahre Merkel: „Wir schaffen das“. Zwei Sätze, die die demokratische Streitkultur zerstört haben. Wie ließe sie sich wieder gewinnen?

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Wir haben es mit einer „ertrinkenden Regierung“ zu tun, wettert der Wutbürger, und mit Parlamentariern, denen „ihr Volk fremd“ geworden ist. Das Land befinde sich „seit langem im steten Niedergang“, sei auf „dem Weg in eine westliche ´DDR light`“, auch wenn „gegen Tatsachen blinde Gutmenschen“ und politische „Deppen“ das Offensichtliche immer noch leugnen würden: „Bürger, auf die Barrikaden! Wir dürfen nicht zulassen, dass alles weiter bergab geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen… Wir sind das Volk!“ Nicht Björn Höcke hat das gesagt. Nicht Alexander Gauland. Nicht mal Thilo Sarrazin. Sondern Arnulf Baring. Vor fast 18 Jahren. In der FAZ.

Ich erinnere mich noch gut, wie sehr ich die Furorfähigkeit dieses Mannes bewunderte. Arnulf Baring war immerhin schon 70, er tauchte damals in vielen Fernsehrunden auf, verlor verlässlich die Contenance - und ich fand es schlicht herrlich, dass ein Mann in seinem Alter noch rot anlaufen und sich in Rage reden, sich so kämpferisch um die Zukunft bekümmern konnte. Wie viel Kraft Baring aus der gesuchten Konfrontation bezog! Wie viel Energie und Entschiedenheit ihm politische Gegnerschaft spendete! Der Historiker Baring war mir als Herausgeber der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte und Autor eines Buches über die Ära Willy Brandt / Walter Scheel schon länger bekannt. Aber in heftiger Ablehnung schätzen gelernt, mich ihm in inhaltlicher Maximaldistanz zutiefst verbunden gefühlt, habe ich Baring erst, als er sich als rauflustiger public intellectual zu erkennen gab, als liberalkonservativen Wutbürger avant la lettre. Baring war wohl einer der Letzten, der das noch wollte und konnte: Sachverhalte überspitzen, um ihren Kern kenntlich zu machen. Rhetorisch eskalieren, um Diskurskombattanten Räume des (Gegen-)denkens zu eröffnen. Wobei das „Konnte“ in des Wortes doppelter Bedeutung zu lesen wäre: Baring konnte es - und man ließ es ihm durchgehen.

Thilo Sarrazin wollte es acht Jahre später sicher auch. Aber er konnte es nicht - und das ließen ihm die meisten Rezensenten von „Deutschland schafft sich ab“ auch nicht durchgehen. Das Buch ist, nach Vorabdrucken in „Bild“ und „Spiegel“, vor genau zehn Jahren erschienen und wurde binnen weniger Wochen viele hunderttausend Mal verkauft. Es markiert nicht nur den Anfang der rechtspopulistischen Bewegung in Deutschland. Sondern auch den Beginn einer tiefen Meinungsklimakrise: Die kritische, zuweilen vernichtende Rezeption von „Deutschland schafft sich ab“ bestätigte, was der breite, publizistische Erfolg zugleich wiederlegte: dass das Denken durch moralische Hygiene ersetzt werde, so damals der Medienphilosoph Norbert Bolz, dass abweichende Meinungen nicht mehr kritisiert, sondern gehasst, dass Einspruchsdenker nicht mehr widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht würden. Und tatsächlich: Seither schließen sich die Streitfenster in Deutschland, seither schrumpft der Raum der Öffentlichkeit, seither wird die Demokratie immer kleinlauter - und was einmal die Agora eines möglichst herrschaftsfreien Diskurses sein sollte, sind heute Arenen blökender Fangesänge, Marktplätze der Desinformation. Wie konnte es dazu kommen?

„Multikulti ist gescheitert“, soufflierte Baring ein paar Jahre zuvor noch Sarrazin: „Weil die Ausländer die deutsche Kultur neben ihrer eigenen nicht akzeptieren oder auch nur dulden wollen“ – und weil „gegen Tatsachen blinde Gutmenschen“ und politische „Deppen“ das Offensichtliche verharmlosen würden. Dann passiert das Entscheidende: Sarrazin nimmt den Text nicht nur auf, sondern eskaliert die Thesen der konservativen Kassandra auf offener Bühne ins Völkische und Biologistische: Der „Volkscharakter“ der Deutschen sei „Fäulnisprozessen“ ausgesetzt, weil „Bildungsgrad und erbliche Intelligenz in einem befruchtenden Verhältnis stehen“ und weil „die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten“ dazu führe, dass der Tagesrhythmus in 100 Jahren „vom Ruf der Muezzine bestimmt wird“. An der gefährlichen Blödheit dieser Sätze gibt es auch heute nichts zu deuteln. In Sarrazins trivialisierter Dekadenztheorie figuriert Deutschland als geschlossene, nationalstatische Entität, bedroht von einem benennbaren Außen und bestimmten Fremden - jedenfalls nicht als kulturoffener, liberaler Nationalstaat von Welt. Noch dazu redet Sarrazin einem hybriden Rassen-, Religions- und Kulturdeterminismus das Wort, um Assimiliationsprozesse, Bildungserfolge und Aufstiegsversprechen ex ante für obsolet zu erklären. Er hält - „Deutschland schafft sich ab“ - das Thema Bundesrepublik für erledigt und beutet die antidemokratischen Reflexe derer aus, die sich Deutschland braun angestrichen wünschen.

Das gegenläufige Problem: Die politische Sphäre schien damals geradezu erleichtert, als Sarrazin auf seiner Talkshow-Tournee das „jüdische Gen“ rausrutschte: Endlich bestand kein Restzweifel mehr an der Abseitsposition des Querulanten; endlich gab es keinen Grund mehr, sein Buch auf Wahrheiten jenseits des laiengenetischen Unsinns abzuklopfen. Und so spitzte sich die fatalistische Stimmung in Deutschland nicht nur zu, weil Sarrazin Deutschlands Gegenwart im Tempus der vollendeten Zukunft verhandelte. Sondern auch, weil nicht mal eine bürgerliche Regierung es damals fertigbrachte, Integrationsverweigerungen von Zuwanderern (Clanstrukturen, Spracherwerb, Rolle der Frau) angemessen zu adressieren - und jeder Trottel Sarrazin einen Stein hinterherwerfen konnte, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel der Bundesbank nahelegte, sich von ihrem Vorstandsmitglied zu trennen und SPD-Chef Sigmar Gabriel ein Parteiausschlussverfahren anzettelte. Man wusste damals wirklich nicht, worüber man sich mehr wundern sollte: über den kaum verhüllten Rassismus des Buchautors und die Wucht der Zustimmung, die er mit seiner raunend-rassistischen Endzeitrhetorik erfuhr - oder über die Borniertheit einer Politik, die Sarrazin pflichtgemäß tadelte und dabei einmal mehr so tat, als gingen sie die vielen Probleme, die der Autor im Windschatten seines Geraunes zu Recht beim Namen nannte, nichts an.

Damals schrieb ich: „Die Bürger begehren gegen die Arroganz der Macht auf. Und die Politik täte gut daran, sich ihren Bürgern zu stellen, ihren doppelbödigen Ruf nach `Entschlossenheit´ ernst zu nehmen. Denn dieser Bürgerprotest geht nicht von der Peripherie der Gesellschaft aus, um sich langsam in ihr Zentrum vorzufressen (und dort zu beruhigen), sondern vom Zentrum selbst… Er äußert sich nicht aus Verantwortung für die Gesellschaft gegen sie, um schließlich erfolgreich in ihr aufzugehen…, sondern (mitten) in der Bürgergesellschaft – gegen die Politik. (Und er beweist), dass die parlamentarische Demokratie das fruchtbare Feld der gesellschaftlichen Mitte, von dem sie sich nährt, nicht mehr ausreichend beackert.“ Und Angela Merkel? Sie „heizt den Protest der Bürger durch die demonstrative Nichtbeachtung von Sarrazins Analyse an, … sieht schulterzuckend zu, wie Deutschlands Mitte sich mit Ressentiment gegen die repräsentative Demokratie auflädt. Das ist fatal… Wenn die Mitte ihre Mitte verliert, schafft Deutschland sich am Ende tatsächlich ab.“

Angela Merkel hat das Kanzleramt zu einer Nichtregierungsorganisation umgebaut

Angela Merkel. Sie hat fraglos einen Teil der Mitte verloren; in Ostdeutschland haben die „Bonner Parteien“ zuletzt nur noch die Hälfte der Bevölkerung erreicht; die andere Hälfte wählte die AfD und die Linken. Ein wichtiger Grund: Merkel hat das Kanzleramt zu einer Nichtregierungsorganisation umgebaut, die dem Nötigsten hinterher amtiert und das Land fast schon lächerlich anspruchslos bewirtschaftet. „Asymmetrische Demobilisierung“ haben sie das im Konrad-Adenauer-Haus genannt - die Ausschaltung des Politischen durch die Produktion eines diskussionsfreien öffentlichen Raumes: „Ende der Geschichte“. Allerdings ohne Hegelsche Pointe. Die Merkel-CDU ist geradezu definiert als Partei, die dem Primat der Demoskopie allen geschichtlichen Sinn opfert, die nicht am Weltgeist arbeitet, sondern sich dem Zeitgeist unterwirft. Sie verzichtet ganz aufs Erzählen, weil für sie nur die Umfrage, also der Machterhalt zählt. Regenerative Energien, Mindestlohn, Ehe für alle, die Zukunft der E-Mobilität, die autofreie Stadt, die Regulierung der Finanzmärkte und eine europäische Konjunkturpolitik: Die CDU lehnt den „gesellschaftlichen Wandel“ so lange ab, bis er sich ohne ihr Zutun durchgesetzt hat oder bis er ihr krisenhaft aufgezwungen wird, um sich sodann an seine Spitze zu stellen. Anspruchsloser und inhaltsleerer geht es nicht.

Und erfolgreicher auch nicht. Was die Merkel-Union von allen anderen Parteien unterscheidet: Die Deutschen wissen bei Linken, SPD, Grünen, FDP und AfD ziemlich genau, warum sie die ein oder andere Partei nicht wählen. Im Unterscheid dazu liefert die Union den Deutschen bloß keinen Grund, sie zu wählen - eben weil sich die Merkel-CDU als bloße Begleitagentur des ohnehin Sich-Vollziehenden versteht. Entsprechend geht das, nunja, „Interesse“ der Merkel-Union dahin, eine politische Kultur der schulterzuckenden Bejahung zu etablieren, eine schwache Positivität des Einverstanden-Seins: Sie erntet keine politische Zustimmung politisierter Bürger und Ciotoyens, wohl aber müde hingedäumelte Likes von Arbeitnehmern und Konsumenten, die alles in allem einverstanden sind mit dem, was ist - das reicht für 35 Prozent. Die Kehrseite: Wer seit Jahren an der Abschaffung einer lebendigen, „agonistischen Sphäre des öffentlichen Wettstreits“ (Chantal Mouffe) arbeitet und das genuin Politische in einer Demokratie - die Gegnerschaft von Wertvorstellungen, Meinungen und normativen Zielen - abschaltet, um sich den Wählern im Namen einer Kette von Alternativlosigkeiten als hohle Mitte zu empfehlen, darf sich nicht wundern, wenn sich irgendwann Agonismus in Antagonismus verwandelt und statt Gegnern plötzlich auch Feinde ins Parlament einziehen.

Zumal dann nicht, wenn er im Namen der „Alternativlosigkeit“ und der politischen Vernunft die kleine, heile Welt der Arbeitnehmer und Konsumenten bedroht und etwa Milliarden für Geldinstitute und Griechenland, für die Rettung des Euro und Flüchtlingsopfer ins Schaufenster stellt. Dafür gab es Gründe. Aber alternativlos? In einer Demokratie ist nichts alternativlos. Und in einem Wohlfahrtstaat fast alles (immer auch) ein Verteilungskampf. Merkel hätte mit ein bisschen Mut schon vor Jahren eine europäische Fiskalunion durchsetzen oder Fehler ihrer Flüchtlingspolitik einräumen können - statt dessen hat sie damals an derselben Politik festgehalten, die sie heute Österreich vorwirft - und die Deutschen bis heute allein gelassen mit ihrem unerklärten „Wir-schaffen-das“-Trotz.

Hinzu kommt, dass Merkel permanent von sich annimmt, politisch rational zu handeln, zumal dann, wenn sich aus ihrer Sicht die „Realitäten“ ändern (Atompolitik, Mindestlohn, Schuldenunion…) und dass sie als Nutzerin der Vokabel „alternativlos“ ihre Kritiker aus dem Bezirk des Rationalen ausschließt - denn sonst wären sie ja zu ihrer Einsicht in die Alternativlosigkeit befähigt. Das ist nicht nur arrogant. Sondern mit Blick auf die „Realität“ und „Rationalität“ auch so eine Sache. Denn fest steht, dass die Irrationalität in den vergangenen 20 Jahren allzu oft aufseiten der „ökonomischen Vernunft“ stand. Sie hat eine Wirtschaftsordnung prämiert, in der Geld aus dem Nichts geschöpft wird, systemrelevante Banken ohne Restrisiko agieren, Firmenzentralen die Größe eines Briefkastens haben, organisierte Geldinteressen niedrigzinslich gestützt werden und weite Teile digital hochgezüchteter Finanzmärkte der Realwirtschaft entzogen sind.

Es fällt mit dem Soziologen Bruno Latour außerdem nicht schwer, so unterschiedliche Phänomene wie Standortverlagerung, Steuervermeidung oder auch den internationalen Kongress-Tourismus als Realitäts-Flucht-Bewegungen lose vernetzter Luftwurzelwesen zu begreifen, die von Hotspot zu Hotspot jetten, um der analogen Restwelt mit ihren realen Menschen und Problemen glücklich enthoben zu sein. Alle Empörung über immobile Putzmänner oder Verkäuferinnen, die an alternative Fakten glauben, ist zwecklos, solange nicht auch die Wirtschaftseliten wieder gewillt sind, auf den Boden gemeinsamer Tatsachen zurückzukehren.

Fetzt Euch also, aber richtig, auf dem Boden gemeinsamer Tatsachen und geteilter Streitlust. Es stimmt nicht, dass sich der Raum des Sagbaren verengt. Es war und ist in diesem Land bestens um die Meinungsfreiheit bestellt. Alles Nicht-Strafbewehrte ist sagbar. Wer das leugnet, ist ein Ignorant. Wohl aber stimmt, dass moralische Dekrete, exkludierende Signalwort-Urteile („Rassismus!“ „Populismus!“), auch die Markierung von ausschliessenden Sprecherpositionen inflationär in Gebrauch sind und das Meinungsklima aufheizen, weil dass das je Meinige der Meinungen unverbunden durch die Atmosphäre wirbelt und sich nicht mehr im Gespräch (oder im anschliessenden Selbstgespräch) beruhigen, abkühlen will.

Es geht aber nicht darum, eine Diskussion gewinnen zu wollen, eher schon darum, einen Shitstorm auch mal robust wegzulächeln - und vor allem darum, den politischen Raum nie moralisierend einengen, stets provozierend öffnen zu wollen. Erst dann besteht die Chance, dass Regierende und Regierte, „Anywheres“ und „Somewheres“, Bevorteilte und Benachteiligte sich wieder als politisch Handelnde verstehen, als Autoren ihres Lebens und (Mit-)gestalter des Landes, die in einem gemeinsamen öffentlichen Streitraum einander widersprechen, zuhören, verstehen. Die die Demokratie als Ort des argumentativen Wettbewerbs und der Gleichbedeutung aller Sprecherpositionen gemeinsam verteidigen. Die sich nicht primär der Übermacht anonymer Kräfte („der Kapitalismus“), Systemzwängen („die Märkte“), Alternativlosigkeiten („die Bankenrettung“), Technologien („der Algorithmus“), herrschenden Verhältnissen („Die da oben“), struktureller Gewalt („rassistisches System“), einer eingebildeten kulturellen Überfremdung („Der Ruf der Muezzine“) oder auch nur einer freiheitsberaubenden Medizinalmacht („Maskenzwang“) ausgeliefert fühlen wollen. Die Freiheit statt dessen als Fähigkeit verstehen, die jeder für sich und wir alle miteinander zu verwirklichen haben - als Freiheit, jeden Tag ein Stückchen besser frei zu sein. Die wissen, solange die Demokratie lebendig ist, und nur solange die Demokratie lebendig ist, haben wir: immer eine Wahl.

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