Tauchsieder
Quelle: dpa

Homo postcorona? Bloß nicht!

Covid ändert alles, hoffen viele Politiker, Soziologen und Aktivisten: weniger Kapitalismus, mehr Solidarität, weniger Tempo, mehr ruhendes In-der-Welt-Sein. Die meisten Deutschen wissen es besser. Aus guten Gründen.

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Sechs Monate nach Beginn der Coronakrise in Deutschland ist es vielleicht Zeit für ein kleines Zwischenfazit. Es fällt ziemlich traurig aus: Die Geisteswissenschaften haben zur neuen Realität nichts Wesentliches beigetragen. Oder übersehe ich was? An Adhoc-Beschreibungen der Postcorona-Moderne mangelte es in den ersten Wochen nicht. Fast allen eigneten ein normativer Überschuss und eine Knappheit an Originalität. Die meisten Soziologen, Politologen und Zeitdiagnostiker edierten die Phänomene der Krise und ihre Folgen, um sie ihren kritischen Modernisierungstheorien einzuverleiben und aktivistischen Interessen dienstbar zu machen.

Der Geschäfts- und Reiseverkehr brach zusammen. Die Büros standen leer. Der Himmel war weitgehend flugzeugfrei. In den Städten ploppten Radwege auf. Viele Menschen schafften sich neue Büromöbel für ihr Homeoffice an. Netflix und Amazon boomten. Das Klima atmete mal kurz tief durch. Und viele Menschen, sofern sie gesund blieben, hielten endlich mal inne, kamen zu sich, so hieß es: Das Hamsterrad stand still. Dank Corona.

Dabei hätte man es belassen können.

Aber nein, Corona musste mehr sein: Der Lockdown wurde als Memento einer hochdrehenden Moderne und ihrer transzendenzlosen Rationalität gefeiert, als Mahnmal des kapitalistischen Steigerungsspiels und seines unerbittlichen Zeitregimes, als Menetekel der Klimakatastrophe und des kommodifizierten Konsumenten-Ichs. Und natürlich durften sich auch die professionellen Demokratie- und Freiheitsforscher die Ausgangsbeschränkungen nicht entgehen lassen: ein Konjunkturprogramm für den universitären Fußnotenbetrieb!

Das alles ist jetzt Wochen her. Und spätestens seit Mai lassen die Menschen erkennen: Sie wünschen sich nichts sehnlicher zurück als die Welt, wie sie einmal war: dieselbe Arbeits-, Freizeit-, Erlebnis-, Risiko-, Angst-, Informations-, Beschleunigungs-, Singularitäts- und Multioptionsgesellschaft, als die sie Soziologen in kritischer Absicht wieder und wieder beschrieben haben. Besonders erfolgreich waren dabei drei Meta-Erzählungen, die einander bis heute überlagern, befruchten und bedingen: die „Rationalisierung“ (Max Weber), „Individualisierung“ (etwa Ulrich Beck) und „Kommodifizierung“ (Karl Marx) der Welt. Damit gemeint sind etwa a) die Standardisierung von Produktionsprozessen, die Formalisierung der Rechtssprechung, die Bürokratisierung von Institutionen, b) die Pluralität der Lebensstile, das schwachtolerante Laissez-faire, die eingeübte Indifferenz gegenüber der Selbstbestimmtheit von allem und jedem, die „Blasiertheit“ (Georg Simmel) des Großstadtmenschen, die Personalisierung und Ludifizierung des Konsums, sowie c) die durch „Kapitalakkumulation“ befeuerte Industrialisierung, also die dynamische Funktionslogik einer Wirtschaftswelt, die auf der Fabrikation von Mehrwert durch das Ausbeuten von Rohstoffen und Menschen beruht – ein Stoff, aus dem noch heute die Träume der Degrowth-Freunde und Systemkritiker sind.

Besonders erfolgreich hat in den vergangenen Jahren Hartmut Rosa versucht, Elemente der drei Meta-Erzählungen als Epiphänomene einer Theorie der „Beschleunigung“ zu deuten: Seine zentralen Befunde lesen sich wie ein dauernd aktualisierter Mix aus Marx und Max Weber plus Adorno – inklusive des Bedauerns, dass der moderne Mensch im „stahlharten Gehäuse“ der Bürokratie und des Kapitalismus, der Anonymität der Geschäftsbeziehungen, seiner Verdinglichung als Lohnarbeiter, kurz; wegen seines funktionalen Zugriffs auf die Welt als „religiös unmusikalisch“ (Max Weber) gelten muss. Rosa, an dieser Stelle ganz Agnostiker (seine Bücher müssen sich schließlich im 21. Jahrhundert verkaufen), hat dafür den Begriff der mangelnden „Resonanzfähigkeit“ geprägt. Seine populäre Doppelthese: Im Taumel einer beschleunigten Moderne kommt der Mensch sich selbst abhanden – und dem Menschen eine Welt, die nicht nur in Form von dauernder Information durch ihn hindurch rauscht, sondern die sich ihm als ständig Erreichbare auch zunehmend entzieht.

Neu ist an diesen Überlegungen nichts. Im Kern beutet Rosa die Argumente der Romantiker aus und bringt sie gegen das aufklärerische Subjekt von Bacon, Leibniz und Descartes in Stellung – gegen den Typus des modernen, naturwissenschaftlichen Menschen, der sich die Dinge der Welt aneignet, um über sie zu verfügen. Ein Mensch, so Rosa, der die Welt mit seinen Instrumenten (Mikroskopen, Fotoapparaten) auf Distanz bringt, um sie zu kontrollieren, der ihre Erscheinungen und Phänomene sammelt, untersucht, katalogisiert, der diesen Dingen mithin beziehungslos-nüchtern, mit kaltem Erkenntnisinteresse gegenübertritt, um sie (für sich) „sichtbar, erreichbar, beherrschbar, nutzbar“ zu machen. Und natürlich wünscht sich Rosa stattdessen eine andere, resonantere Weltbeziehung. Der Mensch soll nicht über die Welt verfügen wollen, sondern für ihre Erscheinungen und Hervorbringungen erreichbar sein, sich gleichsam auf halbem Wege treffen mit der Welt, soll etwa ein Musikstück, ein Kunstwerk oder ein Landschaftserlebnis nicht „haben“ wollen, sondern „sein“ in ihm, soll nichts besitzen, sondern in allem aufgehen, die Welt nicht festhalten wollen, sondern sich dauernd von ihr angesprochen fühlen, nur so kann er dem beiderseitigen „Weltverstummen“ entgehen, so Rosa.


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Natürlich ist das alles politisch breit anschlussfähig, man möchte fast sagen: schwarzlinksgrün-emotional aufladbar: Die gestörte Mensch-Naturbeziehung (Ausbeutung der Ressourcen, Klimawandel), die anonymisierten Geldinteressen der Hedgefonds und Banken, unter denen etwa leibhaftige Fabrikarbeiterinnen in Bangladesch oder Ölförderer in Nigeria leiden (Kapitalismuskritik), der Sinn(en)verlust eines Spaziergangs, Abendessens oder Museumsbesuchs, den ich mal wieder meinem Facebook- und Twitter-Avatar geopfert habe (Medienkritik) – und natürlich die Zeitgewinne, die der technologische Fortschritt mir etwa in Form des E-Mail-Verkehrs nur deshalb beschert, damit ich für noch mehr Menschen, noch erreichbarer bin, damit ich die gewonnene Zeit verliere, sie mir noch knapper vorkommt (Kulturkritik).

Nur einen Gedanken, vielleicht der entscheidende, kommt bei alledem stets zu kurz: Wissenschaft, Kapital und Technologie sind nicht schuld an unserer angeblich gestörten Weltbeziehung, sondern haben überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen, dass wir ein kritisches Weltverhältnis, verstanden als „globales Gewissen“, entwickeln konnten - uns vielen die Zeit eingeräumt, sich in einer ausdifferenzierten Gesellschaft darüber auszutauschen.

Es stimmt schon, einerseits: Der moderne Mensch muss sich regen, ob er will oder nicht, seit die Welt vom frühneuzeitlichen Andante ins industriekapitalistische Molto Allegro gewechselt ist. Kapitalistische Wirtschaften bedeutet per definitionem, dass Geld sich nicht (als neutrales Tauschmittel) um Güter und Menschen dreht, eher schon, dass Güter und Menschen sich um investiertes Geld (das Kapital) drehen. Vor allem aber bedeutet kapitalistisches Wirtschaften, dass sich alle gemeinsam, das Geld, die Güter und der Produktionsfaktor Mensch, mit- und umeinander drehen – und zwar möglichst schnell. Denn um nichts als des investierten, „arbeitenden“ und zu vermehrenden Geldes willen, müssen die Produktivität der Arbeit gesteigert, die Produktzyklen verkürzt und die Fließbänder beschleunigt werden – und umgekehrt: Um nichts als laufend optimierter Waren und Güter willen, muss das kapitalistische Geld investiert, bearbeitet, vermehrt und erneut investiert werden: Alle kapitalistische Wirtschaft beruht „konstitutiv auf dem Erarbeiten und Ausnützen von Zeitvorsprüngen“, so Rosa.

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