Tauchsieder
Quelle: dpa

Jetzt hilft nur noch – der Neoliberalismus!

Huawei, TikTok, Nord Stream 2 – so politisiert wie in diesen Wochen war die Welt der Wirtschaft seit dem Mauerfall nicht mehr. Auf dem Spiel steht nicht weniger als das freie Unternehmertum.

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Der Philosoph Hermann Lübbe hat die Globalisierung einmal als glückenden Prozess beschrieben, der vor allem „Modernisierungsgewinner“ hervorbringt: Menschen, die von den nicht erklärungsbedürftigen Vorzügen des technischen Fortschritts überzeugt sind und sich daher als Mitglieder einer mundialen „Zivilisationsökumene“ verstehen. Dahinter stand, zumal nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/90, die zuversichtliche Vorstellung einer wirtschaftlich, kulturell und medial vernetzten, zunehmend „flachen Welt“, so der Publizist Thomas Friedman, die sich durch ein universales Wohlstandsplus und einen Zuwachs an internationaler Rückkopplung auszeichnet.

Wenn alle Menschen weltweit voneinander wissen, dass sie niemals zuvor in der Geschichte so umfassend einander ausgeliefert waren wie sie es ausgerechnet hier und heute sind, so das Argument, bleibe ihnen gar nichts anderes übrig, als leidlich miteinander auszukommen, ihre Güter und Waren zu je wechselseitigem Nutzen auszutauschen, sich in globalen Institutionen zu verständigen. Oder konkret gesprochen: Wenn japanische Devisen Amerikas Konsum-Wohlstand sichern und faule Hypothekenkredite in Iowa das ferne Island an den Rand des Ruins bringen, wenn Kohlekraftwerke in China arktisches Eis schmelzen und die Fischgründe der Weltmeere nur abgestimmt bewirtschaftet werden können oder aber gar nicht - dann ist Multilateralismus eine Menschheitspflicht.

Hermann Lübbe hat seine Globalisierungsgedanken, wie auch Thomas Friedman, im Jahr 2005 zu Papier gebracht, das ist gar nicht so lange her. Und doch scheinen sie aus einer anderen, längst verschütteten Zeit zu stammen. Die Welt der Politik heute ist jedenfalls nicht flach, gut vernetzt, international abgestimmt, sondern blockhaft, zerklüftet, neonational vermauert. Und die Welt der Wirtschaft ist nicht liberal, arbeitsteilig, handelsfroh und einander lieferkettenverbunden, sondern hochpolitisiert, protektionistisch, merkantil und einander zutiefst systemfeindlich gestimmt. Die supranationale Governance der Welt? Weitgehend suspendiert.

Das Klimaproblem wird nicht adressiert, das Welthandelssystem ist faktisch außer Kraft gesetzt, die Vereinten Nationen sind mit Blick auf Syrien handlungsunfähig – und in der Coronakrise zieht die „internationale Gemeinschaft“ nicht mal mehr in der Weltgesundheitsorganisation an einem Strang. Stattdessen schaffen Autokraten böse Fakten: Russlands Wladimir Putin greift sich die Krim, China verleibt sich Hongkong ein – und beide Mächte stoßen in Lücken vor, die die USA nicht nur aus lauter Regierungsschwäche hinterlassen, vergrößern ihre Einflusszonen, ordnen die Weltkarte neu: Russland etwa in Syrien, China im Südchinesischen Meer, entlang der historischen Seidenstraße, oder auch im Iran: Peking und Teheran stehen vor dem Abschluss eines Abkommens, das den Mullahs in den nächsten 25 Jahren 400 Milliarden Dollar an Investitionen aus China beschert – und ein Entkommen aus der Sanktionspolitik der USA.

Noch nie seit dem Mauerfall waren auch vormals „private“ Geschäftsbeziehungen so politisiert wie in diesen Wochen. Großbritannien hat, wohl auch auf Druck der USA, auf das repressive „Sicherheitsgesetz“ Chinas in Hongkong reagiert und den chinesischen Konzern Huawei vom 5G-Netzausbau ausgeschlossen. Australien schloss sich der Forderung Washingtons an, den Ursprung des Coronavirus in China zu erforschen – und handelte sich Importverbote für Wein und Rindfleisch ein. US-Außenminister Mike Pompeo ruft der „freien Welt“ zu, sie müsse alles daransetzen, um über die „Tyrannei“ Chinas zu „triumphieren“.

FBI-Direktor Christopher Wray hält „Spionage aus China“, den „chinesischen Diebstahl“ von Daten für „die größte Bedrohung“ der USA. Und Generalstaatsanwalt William Barr warnt, die KP Chinas mit ihren „vielen Tentakeln“ wolle amerikanische Institutionen „zerstören“. Kein Wunder also, dass US-Präsident Donald Trump nicht nur den Handelskonflikt mit China eskaliert, sondern jetzt auch noch chinesischen Telefongesellschaften, Datenspeichern und Smartphone-Applikationen wie dem Kurznachrichtendienst „Wechat“ und der Videoplattform „TikTok“ den Stecker ziehen und sogar seine Tiefseekabel sichern will: Die USA wollen ein „Clean Network“, sprich: Jeden Datentransfer nach China unterbinden.

Die Exportnation Deutschland droht dabei zwischen die Fronten zu geraten, im Systemwettbewerb zwischen China und den USA aufgerieben zu werden. China übt Druck auf Konzerne und Mittelständler aus, die Taiwan in ihren Standort- und Kundenlisten als Land führen und sich nicht dem Diktat seiner Ein-China-Politik fügen. China zwingt Konzerne seit Jahrzehnten konkubinenwirtschaftlich ins Joint-Venture-Bett, saugt Know-How ab, spioniert seine Geschäftspartner routinemäßig aus, zerstört faire Wettbewerbsmärkte mit staatskapitalistischen Mitteln – und sanktioniert natürlich auch Staaten, die sich erdreisten, das Land zu kritisieren.

Immerhin: Deutschland reagiert inzwischen robuster als noch vor zwei Jahren, wenn auch auf Regierungsebene noch immer peinlich verhalten: Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat in seiner „Nationalen Industriestrategie“ den Staat als Schutzmacht gegen feindliche Übernahmen und den Diebstahl geistigen Eigentums in Stellung gebracht, der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) warnt vor der schieren „Dimension der staatlichen Innovationslenkung“ in China, vor „hohen Asymmetrien im Marktzugang“, dem „zunehmenden Kontrollanspruch“ der Partei.

Aber was, wenn nun auch noch der Freund zum Feind wird, wenn die USA Soldaten abziehen aus Deutschland, Autokonzernen drohen und die deutsche Energiepolitik torpedieren, ja: deutschen Firmen mit „extraterritorialen Sanktionen“ drohen? Drei Senatoren der republikanischen Partei haben am Mittwoch, man mag es kaum glauben, in einer seit Monaten schwelenden wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung um eine deutsch-russische Gaspipeline, die Fährhafen Sassnitz GmbH auf Rügen, eines von mehr als hundert am Bau beteiligten Unternehmen aus Deutschland und Europa gewarnt: „Wenn Sie weiterhin Waren, Dienstleistungen und Unterstützung für das Nord-Stream-2-Projekt bereitstellen…, würden Sie die zukünftige Rentabilität Ihres Unternehmens zerstören“, den Hafen „kommerziell und finanziell abschneiden“ von den USA. Darüber hinaus drohen die Senatoren Vorstandsmitgliedern, leitenden Angestellten und Aktionären der Firma die Einreise in die USA zu untersagen und „jegliches Eigentum…, das sie in unserem Zuständigkeitsbereich haben“, einzufrieren.

Würde Gerhard Schröder in den USA noch ein Visum bekommen?

Ob die USA in diesen Wochen Altkanzler Gerhard Schröder (SPD), Präsident des Verwaltungsrates der Nord Stream 2 AG und enger Freund des russischen Präsidenten Wladimir Putin, noch ein Visum ausstellen würden? Man würde es nur zu gerne wissen. Schröder, ganz Lobbyist des Kremls, hat Deutschland bereits vor einem Monat zu „Gegensanktionen“ geraten – und, als wolle er provozieren, sich vor wenigen Tagen auch noch löwenlächelnd von der chinesischen Botschaft ins Schaufenster der Freundschaft stellen lassen: „Aufschlussreicher Austausch“ mit Botschafter Wu, so steht es unter dem Foto, veröffentlicht bei Twitter: Zwei Männer in blütenweißen Hemden, im Garten der Residenz, herzlich lachend, „in sommerlicher Atmosphäre“ – ein ganz undiplomatischer Tiefschlag Schröders gegen die Freiheitsbewegten in Peking, Hongkong, Moskau und natürlich alle Liberalen, die die letzten Reste einer wertegebundenen Außenpolitik verteidigen möchten.

Worauf es in dieser Situation für Deutschland ankäme? Achtung, jetzt heißt es tapfer sein, liebe Antikapitalisten und Homo-Postcorona-Freunde: auf eine Renaissance des Neoliberalismus – und eine Re-Lektüre von Carl Schmitt. Der deutsche Staatsrechtler und Philosoph, von 1933 bis zum Ende des Hitler-Regimes Mitglied der NSDAP, hat vor genau 70 Jahren ein Buch mit dem für heutige Ohren etwas sperrigen Titel „Der Nomos der Erde“ geschrieben. Darin schreibt Schmitt über die Inbesitznahme der Welt, ihre „Ortung und Ordnung“ – kurz: ihre Aneignung – man kann, alles in allem, von einer historisch und territorial weit ausgreifenden, völkerrechtlichen Reflexion über Rousseaus große Worte aus dem „Diskurs über die Ungleichheit“ sprechen: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies gehört mir“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“

Schmitt unterscheidet darin gleich zu Anfang zwischen zwei Welten: zwischen der Welt des weit verstreuten, nicht territorial gebundenen (Privat-)Eigentums (dominium) und einer Welt der Herrschaft über Bevölkerungen (imperium), modern: über Staatsbürger. Diese Unterscheidung ist nicht nur nützlich, sondern auch deshalb wichtig, weil sie heute gern von Kapitalismuskritikern in Anspruch genommen wird, die die nationalstaatlich verfasste Demokratie (imperium) gegen die grenzenlose Übergriffigkeit „des Kapitals“ (dominium) verteidigen wollen: Danach unterlaufen die privaten, institutionell und weltweit organisierten Eigentumsinteressen (weniger) Vermögender die Souveränität von Staaten und die Mehrheitsinteressen ihrer Bürger.

Da ist was dran. Aber der kanadische Historiker Quinn Slobodian weiß im Rekurs auf Schmitts Dichotomie auch eine andere, faszinierende Geschichte des Neoliberalismus zu erzählen – als prototypisches Projekt moderner Global Governance. Den Neoliberalen der „Genfer Schule“, so Slobodian, voran Wilhelm Röpke, Friedrich August von Hayek und Michael Heilperin, auch Lionel Robbins, Gottfried Haberler und Jan Tumlir, sei es mit Blick auf die Welt (!) der Wirtschaft nicht um eine Isolierung und Verabsolutierung des Marktes gegangen, sondern um seine Ummantelung und Verrechtlichung; Slobodian selbst spricht von „Ordoglobalismus“ – von einem Rechtsrahmen, der die Sphäre des „dominium“ vor den Zugriffen des „imperium“ schützt. Man kann dieses Projekt natürlich in rein kritischer Absicht, als bloße Verteidigungsschlacht des Privateigentums lesen und als blanken Lobbyismus für Kapitalinteressen denunzieren, und man kann das angstgetriebene Elitenmisstrauen gegenüber dem demokratischen Volkswillen, schon gar die kulturellen Superioritätsgefühle vieler Neoliberaler (vor allem Röpkes) gegenüber den entkolonialisierten Ländern ziemlich unappetitlich finden.

Und doch muss man in einer Zeit der repolitisierten Staatsmachtwirtschaft, in der das „imperium“ (China, Russland, USA) die Burgen des „dominium“ schleift, den „Neoliberalismus“ mit Slobodian mehr denn je vor seinen Verächtern retten: einerseits als weltweite Schutzmacht des Privateigentums, andererseits als Theorie einer Global Governance, die von Anfang an (auch) an der größtmöglichen wirtschaftlichen Integration der Welt und an einer dem nationalstaatlichen Zugriff glücklich enthobenen Vernetzung privater „Globalisten“ interessiert war: „Aber wie für einen Liberalen die Welt nicht an den Grenzen des Staates endet,… wie sein politisches Denken die gesamte Menschheit umfasst…“, so zitiert Slobodian Ludwig von Mises 1927, „… so fordert er auch…(die) staatsgleiche(n) Verbindung aller Staaten zu einem Weltstaat.“

Von diesem Weltstaat sind wir derzeit nicht wegen des Kapitalismus weiter entfernt denn je, sondern wegen der beinharten Machtpolitik von Staaten, die an der Entgrenzung der Sphäre des „imperium“ arbeiten, die die Wirtschaft entglobalisieren, das „dominium“ schwächen – und das freie Unternehmertum willfährig politisieren.

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