Tauchsieder

Mensch, Kretschmann!

Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist nicht nur der Politiker der Stunde, sondern die Personifikation eines Trends: Die Wähler honorieren wieder das moralische Surplus in der Politik.

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Landtagswahlen: Kretschmann mit Grünen weit vorne. Quelle: dpa Picture-Alliance

Winfried Kretschmann ist nicht nur der Politiker der Stunde, sondern auch die Personifikation eines gesellschaftlichen Großtrends. Eine Woche vor den Landtagswahlen zeichnet sich ab, dass der grüne Ministerpräsident seinen Titel mit Aplomb verteidigen und die CDU in Baden-Württemberg schlagen wird, womöglich gar haushoch.

Jüngsten Umfragen zufolge kommen die Kretschmann-Grünen auf volksparteiliche 32 Prozent, während die Union auf 30 Prozent (Forschungsgruppe Wahlen) bzw. 28 Prozent (Infratest dimap) abgestürzt ist.

Ganz im Gegensatz zu seinem Herausforderer Guido Wolf (CDU) genießt Kretschmann nicht nur das Vertrauen der Südwestdeutschen, sondern auch deren Sympathie. Er wird von Investoren wie Jochen Wermuth (mit 300.000 Euro) dafür unterstützt, das grüne Prinzip Nachhaltigkeit (auch) als Rendite- und Job-Maschine zu verstehen; er wird von Daimler-Managern dafür geschätzt, in Mobilitätskonzepten zu denken, um den Automobilstandort in Stuttgart zukunftsfest zu machen; er wird von einem   konservativen Unternehmer (und etatmäßigen CDU-Wähler) wie Wolfgang Grupp für seine Redlichkeit gelobt - und gewählt. 



Vordergründig profitiert Winfried Kretschmann dabei dreifach von der politischen Rückgrat- und Fantasielosigkeit der übrigen Parteien. Erstens zieht er im rot-grünen Milieu von der - ohnehin chancenlosen - SPD Wähler ab, denen es vor allem darum geht, eine CDU-geführte Landesregierung zu verhindern.

Zweitens gewinnt Kretschmann Überläufer von der FDP, die auf den unglaublich dämlichen Einfall verfallen ist, sich im Fall der Fälle mit CDU und SPD zu einer Deutschland-Koalition (Schwarz-Rot-Gelb) verbünden zu wollen, um die mit Abstand liberalsten Grünen Deutschlands zu entmachten (und um sich selbst zur Mehrheitsbeschafferin einer rettungslos unbeliebten „großen Koalition“ zu degradieren).

Drittens schließlich erhält Kretschmann den meisten Zulauf von der CDU selbst - und das ausgerechnet für seine Unterstützung der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Während er fest wie eine Eiche im politischen Sturm steht, unerschütterlich und werteverwurzelt, ganz respektabler Verantwortungsträger, gleicht sein Herausforderer mit irrlichternder Kanzlerkritik einem Wetterfähnchen, hilflos dem Wind ausgeliefert, den die AfD von rechts entfacht, wie panisch sich drehend und wehend, ganz Opportunist aus Angst und Verzweiflung - noch bevor er das erste bisschen Verantwortung trägt.

Doch das allein kann die Popularität von Winfried Kretschmann nicht erklären. Wieso wird er (auch) für eine Flüchtlingspolitik gewählt, für die Merkel schon seit Monaten heftige Kritik einstecken muss?

Die Antwort: Weil Kretschmann, ganz anders als Merkel, keinen Hehl aus seinen Zweifeln macht, weil er öffentlich ringt um die beste Lösung für Deutschland, Europa und die Flüchtlinge - weil er in dieser so entscheidenden politischen Frage nicht vorgibt, unbedingt Recht haben zu können. Während die gesamte Führungsriege in Berlin, mit der ehrenwerten Ausnahme von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), seit Monaten ein Bild der überforderten Hilf- und Planlosigkeit abgibt, glänzt der süddeutsche Ministerpräsident mit Ruhe, Überlegung, Pragmatismus.

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