




Wäre ich Intendant eines Stadttheaters, nähme ich mir in diesen Tagen mal wieder Goethes Iphigenie vor, suchte mir sodann einen jungen ukrainischen Regisseur und setzte das Stück schnell-schnell auf den Spielplan. Nicht weil die Iphigenie, jeder weiß es, das klassische Drama par excellance ist: Die Figuren verkörpern Ideen und Werte von überzeitlicher Gültigkeit. Sie zeichnen sich durch die perfekte Beherrschung ihrer Neigungen und Pflichtgefühle aus. Und sie lösen all ihre Konflikte auf der Basis von Vertrauen und Ehrlichkeit, also auf dem Fundament einer Humanität, die fünf Akte lang all ihre Gedanken und Taten adelt. Sicher, eine Injektion Tugend kann nie schaden, zumal in Zeiten, da die meisten sie nicht ehren, sondern dumm genug sind, ihr in einer privatmoralisch restlos ausgefransten Gesellschaft totalitäre Züge anzudichten. Sei's drum. Nein, Goethes Iphigenie interessiert uns hier und heute vor allem deshalb, weil sie auf Tauris spielt, und weil es sich bei Tauris um eine antike Landschaft handelt, von der die aussterbende Spezies der Bildungsdeutschen annimmt, sie sei mit der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer identisch.
Leider ist hier nicht der Platz, um allen kompetenzgetrimmten G-8-Gymnasiasten, Bachelor-Studenten und Mastern of Moduleffizienz zu erklären, was genau es mit den Tantalidenfluch auf sich hat, warum Agamemnon Schuld auf sich lädt, Orest von den Furien verfolgt wird und die arme Iphigenie auf der Krim gelandet ist - lange Geschichte. Nur so viel: Iphigenie jobbt sehr erfolgreich als Priesterin auf Tauris und hat den Einheimischen als eine Art Muster-Artridin Mores gelehrt; so werden zum Beispiel Fremde nicht mehr umstandslos der Göttin Artemis zum Opfer gebracht, nur weil sie Fremde auf der Krim sind. Allein, glücklich ist Iphigenie nicht, nicht fern der Heimat und schon gar nicht mit ihrer Rolle als Frau, im Gegenteil: Sie ist von heftigem Heimweh geplagt, will zurück zu den Ihren, weg von Tauris und weg von Thoas, dem König, der sie so edel hofiert und begehrt, dass Iphigenie zu allem Überfluss - mehr noch als vom Heimweh - von ihrem schlechten Gewissen dem guten König gegenüber gepeinigt wird.
Im fünften Akt nun, kurz vor dem glücklichen Ende, spitzt sich das Drama zu: Thoas, King of the Krim, will Iphigenie nicht ziehen lassen, fühlt sich von ihr hintergangen und ärgert sich über seine Nachsicht und Milde, die er der Verehrten gegenüber stets hat walten lassen: "...Nun lockt meine Güte / In ihrer Brust verweg'nen Wunsch herauf. / Vergebens hofft' ich, sie mir zu verbinden; / Sie sinnt sich nun ein eigen Schicksal aus." Und - klingt Thoas hier in seinem Zorn auf Iphigenie nicht ganz wie Russlands Staatschef Vladimir Putin in seinem Zorn auf alle, die sich seiner eisernen Regierungsfaust entziehen wollen? Was Thoas-Putin hier fürchtet, ist jedenfalls die Idee von Emanzipation und Selbstbestimmung, die sein traditionelles Verständnis von Herrschaft und Gehorsam, von Staatsmacht und Folgsamkeit durchkreuzt.