Zukunft im Blick Die Nominierten für den Deutschen Innovationspreis

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Covestro: Es werde Chlor

Erfahrung, so hat es der Schriftsteller Kurt Tucholsky einmal formuliert, bedeute gar nichts: „Man kann eine Sache auch 35 Jahre lang falsch machen.“ Der Chemiekonzern Covestro scheint diese Weisheit beherzigt zu haben: Nur weil sich ein Produkt seit mehr als 100 Jahren gut verkauft, sollte man nie aufhören, über Verbesserungen nachzudenken. Im Falle des 2015 aus der Kunststoffsparte des Leverkusener Konzerns Bayer hervorgegangenen Unternehmens geht es um die Herstellung von Chlor, aus dem Covestro Polymer-Werkstoffe produziert. Chlor kommt in der Natur nicht rein vor, sondern ist immer gebunden, zum Beispiel im herkömmlichen Kochsalz. Daraus lässt es sich mit Hilfe einer Elektrolyse extrahieren – dieser Prozess ist jedoch energieintensiv.

Diesen seit mehr als 100 Jahren im Groben gleich verlaufenden Prozess hat Covestro nun mit einer selbst entwickelten Gasdiffusionselektrode revolutioniert: Im Vergleich zum bisherigen Verfahren verringert sie den Energieverbrauch um bis zu ein Viertel. „Das Potenzial für Verbesserungen des Altverfahrens ist weitgehend ausgereizt“, sagt Rainer Weber, Senior Expert Electrolysis bei Covestro, der die Technologie maßgeblich mit entwickelt hat. „Daher sind wir mit der Gasdiffusionselektrode einen völlig neuen Weg gegangen.“

Quadratmeter statt Quadratmillimeter

Bisher wurden bei der Chlorgewinnung zwei Elektroden in eine Kochsalzlösung geführt und Strom an sie angelegt. Dabei entsteht am Pluspol, der Anode, Chlor; am Minuspol, der Kathode, steigt Wasserstoff auf – ein standardisierter und zugleich äußerst energieintensiver Prozess.

Die Gasdiffusionselektrode verhindert nun die Bildung von Wasserstoff an der Kathode, indem dort Sauerstoff zugeführt wird. Statt mit drei Volt kann die Elektrolyse dadurch mit zwei Volt ablaufen – ein enormer Sprung. „Bei früheren Prozessverbesserungen lagen die Einsparungen im Bereich von 50 bis 100 Millivolt“, sagt Weber. Die Anregung für die neuartige Elektrode haben sich die Covestro-Forscher bei Batterien und Brennstoffzellen geholt: „Bei Knopfzellen für Hörgeräte oder sonstige Kleingeräte werden die schon eingesetzt“, so Weber.

Die größte Herausforderung bestand in der Skalierung der Technologie auf Industriemaßstab. Statt wenige Quadratmillimeter mussten die Entwickler die Technologie in Richtung Quadratmeter vergrößern. Die Gasdiffusionselektrode ist ein Verbund aus dem Katalysator Silber sowie einem gasdurchlässigen Polymer. „Da kommt es auf die richtige Poren- und Korngröße an – insgesamt mussten wir 30 Parameter anpassen“, sagt Weber. Seit 2011 arbeitet Covestro in einer Demonstrationsanlage in Krefeld mit der Gasdiffusionselektrode; 2013 hat der chinesische Chemiekonzern Befar Group als erster externer Kunde eine mittelgroße Produktionsanlage damit ausgestattet. Bis Ende nächsten Jahres baut Covestro eine großtechnische Anlage mit der neuen Technologie im spanischen Tarragona.

Und das dürfte erst der Anfang sein: Schließlich ist Chlor eine Basischemikalie – rund 60 Prozent aller chemischen Produkte basieren direkt oder indirekt auf Chor. Weltweit werden pro Jahr rund 80 Millionen Tonnen produziert; etwa fünf Millionen davon in Deutschland. Da die Chlorherstellung zu den energieintensivsten Prozessen überhaupt gehöre, so die Juroren des Deutschen Innovationspreises, könne die Covestro-Technologie einen wichtigen Beitrag zur Ressourcenschonung leisten. „Die Marktchancen werden daher langfristig als gut eingeschätzt“, so die Experten.

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