Wirtschaft von oben #252 – Russisches Erdgas Mit diesem Coup hält Putin die EU zum Narren

Der Hafen von Dünkirchen in Frankreich ist ein wichtiger Anlaufpunkt für russische LNG-Tanker. Quelle: LiveEO/Sentinel

Russlands Präsident lässt Unmengen Flüssigerdgas nach Europa liefern – mit einer neuen Flotte eisbrechender Tanker, wie aktuelle Schiffsdaten und Satellitenbilder belegen. Es geht um so viel, dass es die Verluste aus der gesprengten Ostsee-Pipeline nahezu aufhebt. Wirtschaft von oben ist eine Kooperation mit LiveEO.

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Praktisch im Linienverkehr schaffen mehr als ein Dutzend eisbrechende LNG-Tanker zurzeit russisches Erdgas nach Europa. Fast jeden Tag laufen ein bis zwei der relativ neuen russischen Schiffe europäische Flüssigerdgas-Terminals an. Das zeigen Schifffahrtsdaten von MarineTraffic und Satellitenbilder von LiveEO, die die WirtschaftsWoche ausgewertet hat. Ihre Ladung beziehen die Tanker von einer Anlage zur Verflüssigung von Erdgas in Sabetta am Nordpolarmeer. Und das offenbar in solch riesigen Mengen, dass sie die gesprengte Ostsee-Pipeline Nord Stream inzwischen nahezu ersetzen können.

Diese ungebremsten Lieferungen russischen Erdgases nach Europa sorgen inzwischen zunehmend für Kritik. So forderte die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier erst vor wenigen Tagen von der EU, „kein weiteres Gas mehr aus Russland zu beziehen“. Ihr zufolge sei Europa gut abgesichert. Ein Gasboykott könne dagegen wirkungsvoll das russische Regime um Wladimir Putin treffen. Die Recherche zeigt nun, wie der russische Präsident Europa mit seinen LNG-Lieferungen regelrecht zum Narren hält.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind die Pipeline-Gasimporte aus dem Land in die EU zwar stark gesunken. Zuerst hatte Russland seine Lieferungen in den Westen gedrosselt. Im September 2022 zerstörten dann Unbekannte mit Sprengsätzen drei Nordstream-Pipelines in der Ostsee zwischen Russland und Deutschland. Die Folge: Die Gasimporte aus Russland sind zwischen den Jahren 2021 und 2023 um 83 Prozent gesunken, meldet der Brüsseler Ökonomie-Think-Tank Bruegel.

Doch die Einfuhr von russischem LNG hat die EU sogar erhöht. Zwischen 2021 und 2023 stieg sie um elf Prozent. Das geht aus Berechnungen des amerikanischen Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA) hervor. Laut den Analysten der Denkfabrik Bruegel entsprachen die neuerlichen LNG-Mehrimporte aus Russland knapp zehn Prozent der Energiemenge, die zuvor über die Nord-Stream-Pipelines in die EU flossen. Im Umkehrschluss schafften die LNG-Frachter also insgesamt eine Menge, die sich der aus der Ostsee-Pipeline annähert. 

Für Russland ist das eine nicht unbeträchtliche Einnahmequelle: 8,1 Milliarden Dollar zahlten EU-Staaten laut IEEFA im vergangenen Jahr für russisches LNG. 2018, dem Jahr, als der Hafen von Sabetta seine Arbeit aufgenommen hat, gab die EU laut IEEFA und Eurostat nur 0,8 Milliarden Euro für russisches LNG aus. 2022 waren es aufgrund des extrem hohen Gaspreises 16,1 Milliarden Euro. 11,7 Prozent der europäischen LNG-Importe kommen zurzeit aus Russland.

Der mit Abstand am meisten angelaufene europäische LNG-Hafen für Schiffe aus Russland, das zeigt die Auswertung, ist Zeebrügge in Belgien. Hier lag etwa am 11. Januar die „Nikolay Zubov“, um zuvor in Sabetta aufgenommenes Gas zu entladen. Das zeigt ein Satellitenbild von jenem Tag. Daten zum Tiefgang des Schiffes belegen, dass Ladung gelöscht wurde. Die Zubov, Baujahr 2019, hat seitdem zwei weitere Male Erdgas von Russland in die EU gebracht – am 31. Januar nach Montoir-de-Bretagne in Frankreich und am 20. Februar erneut nach Zeebrügge.

LNG-Hafen Zeebrügge, Westflandern, Belgien

11.01.2024: Rechts liegt der eisbrechende russische Tanker „Nikolay Zubov“ und liefert gerade etwa 100 Millionen Kubikmeter Erdgas aus Sabetta an. Links liegt die „Yenisei River“, ein älterer unkonventioneller russischer LNG-Tanker, der zuletzt Anfang November in Sabetta war, weil er kein Eis brechen kann.

Bild: LiveEO/PlanetScope SuperDove

Neben der Zubov lag am 11. Januar der russische LNG-Frachter „Yenisei River“. Ein inzwischen in die Jahre gekommenes, etwas kleineres Schiff, das kein Eis brechen kann und daher die vereiste Route von und nach Sabetta seit November nicht mehr fahren kann. Um solche Durststrecken im Winter zu vermeiden, hatte Russlands wichtigste Reederei Sovcomflot seit 2017 eine Flotte aus 15 in Südkorea gebauten eisbrechenden LNG-Frachtern aufgebaut. Diese Schiffe leisten 70.000 PS, sind damit vergleichbar mit dem riesigen 2007 in Dienst gestellten russischen Atomeisbrecher 50 Let Pobedy. Und sie können mehr als zwei Meter dickes Eis bewältigen.

Allein mit diesen 15 eisbrechenden Schiffen kann Putin rechnerisch mehr als die Hälfte der ausgefallenen Nord-Stream-Pipeline kompensieren. Die Röhren pumpten 2021 monatlich im Schnitt fünf Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa. Wenn jedes der 15 Schiffe heute zweimal monatlich eine Ladung Gas nach Europa bringt, entspricht das bereits 3,1 Milliarden Kubikmetern. Sebastian Gulbis, Chef des Berliner Energieberater Enervis, bestätigt die Rechnung. Zusätzlich kann Putin in der eisfreien Jahreszeit normale LNG-Tanker wie die „Yenisei River“ einsetzen.

Das zweite wichtige Anlaufland für Putins Gas-Tanker ist zurzeit Frankreich. Es besitzt gleich zwei große LNG-Häfen – neben Montoir-de-Bretagne bei Nantes auch den unweit der belgischen Grenze gelegenen Hafen Dünkirchen (Dunkerque). Hier zeigt ein Satellitenfoto vom 27. Februar die „Yakov Gakkel“, einen jener eisbrechenden russischen Frachter. Er ist aktuell unter der Flagge der Bahamas unterwegs.

LNG-Hafen Dünkirchen, Département Nord, Frankreich

27.02.2024: Der eisbrechende russische LNG-Frachter „Yakov Gakkel“ pumpt hier aus Sabetta stammendes Erdgas an Land.

Bild: LiveEO/Sentinel

Von Sabetta, das am Golf von Ob ungefähr auf halber Strecke zwischen Stillem und Atlantischen Ozean liegt, fahren die Schiffe südlich oder nördlich der Insel Nowaja Semlja entlang in Richtung Norwegen, wo sie dann nach Süden abdrehen. So wie die „Vladimir Voronin“, die am 17. Februar von einem europäischen Sentinel-2-Satelliten vor der norwegischen Küste fotografiert wurde.

Europäisches Eismeer, nahe der nördlichen Küste von Norwegen

17.02.2024: Der eisbrechende LNG-Tanker „Vladimir Voronin“ transportiert gerade Erdgas aus dem russischen Sabetta nach Zeebrügge in Belgien.

Bild: LiveEO/Sentinel

Dieser LNG-Frachter hat in den ersten zwei Monaten dieses Jahres zweimal den Hafen Zeebrügge angelaufen, einmal den Hafen von Dünkirchen und einmal den im spanischen Bilbao. Spanien, Frankreich und Belgien sind die zurzeit größten Abnehmer von russischem LNG. 80 Prozent der Lieferungen werden über diese drei Länder abgewickelt.

Dem russischen Präsidenten reicht das aber nicht. Der lässt gerade 15 weitere eisbrechende LNG-Frachter bauen. Nun erstmals in einer russischen Werft. Die liegt ganz im Osten des Landes, in Bolschoi Kamen, einer geschlossenen Stadt nahe der Grenze zu China und Nordkorea. Samsung Heavy Industries aus Südkorea fungiert als Technologiepartner. Die riesigen LNG-Tanks kommen vom französischen Hersteller GTT, der den Markt für diese Technologie dominiert.

Satellitenbilder zeigen, dass in Bolschoi Kamen seit 2021 LNG-Tanker gebaut werden. Auf einer Aufnahme vom März 2023 sind drei mehr oder weniger fertige zu erkennen. Zur Schiffstaufe des ersten in Russland fertiggestellten LNG-Frachters, der „Alexey Kosygin“, kam Putin sogar persönlich. Inzwischen ist offenbar auch ein zweites Schiff getauft, die „Pyotr Stolypin“, die ebenfalls auf Satellitenbildern zu erkennen ist.

Bilder: LiveEO/GoogleEarth/Maxar, LiveEO/GoogleEarth/Airbus

Doch inzwischen hakt es hier. GTT muss sich aufgrund der EU-Sanktionen aus der Zusammenarbeit zurückziehen. Einem Medienbericht zufolge sind die Tanks der ersten vier Schiffe allerdings weitgehend fertig verbaut. Wie es mit den restlichen Schiffen, bei denen die Metallarbeiten schon begonnen haben, nun weitergehen wird, ist derzeit unklar.

In der Schwebe steckt derzeit auch ein anderes LNG-Projekt von Putin, das ursprünglich mit westlicher Hilfe aufgebaut werden sollte: Die Erdgasverarbeitungs- und Verflüssigungsanlage Baltic-LNG in Ust-Luga an der Ostsee. Schon 2017 hatten Shell und Gazprom ein entsprechendes Joint Venture gegründet. 2019 stieg Shell dann aus dem Projekt aus. Stattdessen kam der deutsche Industriegasekonzern Linde an Bord, verließ das Projekt aber ebenfalls – nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Zwar zeigen aktuelle Satellitenbilder, dass auf dem Gelände Anlagen gebaut werden. Doch große Teile des offenbar ursprünglich dafür vorgesehenen Areals, das zum Teil eigens aufgeschüttet wurde, wird derzeit von einem stattdessen eingerichteten Kohleterminal eingenommen, wie aktuelle Satellitenbilder zeigen.

Bilder: LiveEO/GoogleEarth/Airbus, LiveEO/GoogleEarth/Maxar, LiveEO/SPOT, LiveEO/PlanetScope SuperDove

Inzwischen will Gazprom das LNG-Terminal zwar alleine bauen. Allerdings gab und gibt es weiter Verzögerungen, etwa weil die Finanzierung unklar war. Zudem hat der Staatskonzern Probleme, Auftragnehmer für den Bau einer Verbindungsleitung zu gewinnen, die die ertragreichen Tambey-Gasfelder auf der Jamal-Halbinsel über das von Gazprom betriebene Pipelinenetz mit dieser LNG-Anlage verbinden. Gazprom wollte Branchendiensten zufolge 2026 mit der Förderung und dem Export via Ust-Luga beginnen.

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Die Rubrik entsteht in Kooperation mit dem Erdobservations-Start-up LiveEO – dieses ist eine Beteiligung der DvH Ventures, einer Schwestergesellschaft der Holding DvH Medien, ihrerseits alleiniger Anteilseigner der Handelsblatt Media Group, zu der auch die WirtschaftsWoche gehört.

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