Riedls Dax-Radar
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Die Wette auf die Zinsentspannung läuft

Ob die Notenbanken angesichts der Konjunkturrisiken noch lange an ihrem Zinsstraffungskurs festhalten, wird immer fraglicher. Schon die Andeutung einer Zinspause könnte den Aktienmärkten für die Fortsetzung der Rally genügen.

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Die Europäische Notenbank erhöht die Zinsen um deutliche 0,75 Prozentpunkte und kündigt weitere Zinserhöhungen an. Im Dezember will sie über die Entwicklung der Anleihenkaufprogramme entscheiden, mit denen sie in den vergangenen Jahren die langfristigen Zinsen im Zaum gehalten hat. Die Inflationsrate ist mit 10 Prozent weit entfernt von alten und neuen Zielvorstellungen und gibt keine Anzeichen der Entspannung. Und doch zieht der Dax nach der jüngsten Zinsentscheidung der EZB erst einmal an, die Renditen für zehnjährige Bundesanleihen geben kräftig nach, und der Euro sinkt wieder unter die Marke von 1,00 Dollar.

Wieder sind die Märkte der Notenbank ein Stück voraus. Während die EZB den Kampf gegen die Inflation gerade erst begonnen hat, wird an den Aktien- und Anleihebörsen schon auf die Zeit danach spekuliert: auf eine abkippende Wirtschaft, die 2023 in eine Rezession rutschen könnte und die die Notenbanken eher früher als später dazu zwingen könnte, ihren harten Kurs wieder aufzuweichen.

Die größten Hoffnungen ruhen auf der amerikanischen Fed. Hier hatten führende Mitglieder der Notenbank schon vor gut einer Woche angesichts schwacher Wirtschaft vor weiteren, heftigen Zinsschritten gewarnt. Die kanadische Notenbank hatte die Zinsen sogar nur um 0,50 Prozentpunkte angehoben statt um erwartete 0,75 Prozent.

Die Europäische Zentralbank hat den Leitzins wie erwartet auf zwei Prozent erhöht. Die Märkte reagieren gelassen – auch, weil die Notenbank angesichts der hohen Inflation kaum eine andere Wahl hat.
von Saskia Littmann

Fallen wird die Entscheidung am 2. November mit der nächsten Zinserhöhung der Fed und den weiteren Hinweisen auf die Geldpolitik. Die Haussiers an den Börsen setzen darauf, dass die Notenbank mit Blick auf die Schwächezeichen der US-Wirtschaft und die anstehenden Zwischenwahlen moderate Töne durchklingen lässt.

Allerdings, vor den letzten Sitzungen der Fed, vor allem vor dem wichtigen Notenbankertreffen in Jackson Hole, hatten sich derartige Hoffnungen in Windeseile in Luft aufgelöst. Auch jetzt besteht die Gefahr, dass die Spekulation auf eine Entspannung der Notenbankpolitik zu früh beginnt. Die Zinsen für zehnjährige US-Staatsanleihen, die innerhalb einer Woche von 4,3 auf 3,9 Prozent gesunken sind, könnten dann ihre Kletterpartie schnell wieder aufnehmen – und die Aktienbörsen wären reif für neue Turbulenzen.

Mercedes vorne, Volkswagen schwächer, Linde auf der Flucht

Der wirtschaftliche Abschwung entwickelt sich für die Börsen dabei zunehmend zu einer realen Belastung. Die aktuelle Zahlensaison zeigt, wie die Erosion der Umsätze und Gewinne mittlerweile die stärksten Unternehmen der Welt erreicht: In Amerika geraten nach enttäuschenden Zahlen und verhaltenen Ausblicken Aktien von Amazon, Microsoft, Alphabet oder Meta Platforms schwer unter die Räder. Seit Wochen laufen die Technologiebarometer an der Technologiebörse Nasdaq schwächer als die Dow-Jones-Kurve, in der klassische Industrie, Energie, Konsum und Pharma den Ton angibt.

Die relative Stabilität traditioneller Unternehmen kommt derzeit auch dem Dax zugute. Autokonzern Mercedes-Benz hat im dritten Quartal seinen Absatz erhöht, die Verkäufe hochmargiger Fahrzeuge ausgebaut und gute Preiserhöhungen durchsetzen können. Die Zahlen von Mercedes-Benz sind so vielversprechend, dass die Aktie mit einer substanziell untermauerten Gewinnbewertung um fünf und einer absehbaren Dividendenrendite um acht Prozent zu den günstigsten und rentabelsten Industriewerten weltweit gehört. Zugleich ist der Rückzug aus Russland operativ und bilanziell verarbeitet, die Wende zur Elektromobilität auf den Weg gebracht, die strategische Umsetzung in Richtung Luxuskonzern läuft.

Spezifisches Mercedes-Risiko allerdings ist der hohe Anteil chinesischer Großaktionäre, die ein Fünftel der Mercedes-Aktien besitzen. In Zeiten geopolitischer Spannungen, vor allem mit dem großen Unbekannten China, ist das ein erhöhtes Kursrisiko. Um so bemerkenswerter ist es, dass sich Mercedes-Aktien dennoch seit Monaten im Bereich zwischen 50 bis 60 Euro halten. Für Auto-Investoren ist die Aktie ein strategischer Kauf.

Während Mercedes deutlich besser abschneidet als erwartet, liegt Volkswagen ein Stück unter den Hochrechnungen. Im dritten Quartal kletterte der Umsatz um knapp ein Viertel auf 70,7 Milliarden Euro. Gründe der starken Erhöhung sind der Basiseffekt nach dem von Lieferengpässen belasteten, schwachen Vorjahresquartal und aktuell hohe Verkaufspreise. Der Nettogewinn ging um mehr als ein Viertel auf 2,1 Milliarden Euro zurück, vor allem wegen Abschreibungen auf eine beendete Softwarekooperation mit Partner Ford. Das Ziel für die Auslieferungen wird zurückgenommen und statt fünf bis zehn Prozent Wachstum erst einmal eine Stagnation eingeplant. Nachholbedarf bei der Software für neue Modelle und die schwierige Entwicklung auf dem großen chinesischen Markt, auf dem einheimische Konkurrenten zunehmend stärker werden, entwickeln sich zu Risiken für die Wolfsburger.

Mit Kursen zwischen 125 und 130 Euro sind die im Dax notierten Volkswagen-Vorzugsaktien weit vom Septemberhoch entfernt und nahe an den Juli-Tiefpunkten. Der Abstand zur sinkenden 200-Tagelinie, die derzeit bei 150 Euro verläuft, ist deutlich; der seit Frühjahr 2021 anhaltende Abwärtstrend insgesamt weiterhin intakt. Entwarnung gäbe ein Anstieg über 150 Euro; ein Rückfall unter 120 Euro hingegen wäre ein trendbestätigendes Verkaufssignal. Trotz analytisch günstiger Kennzahlen ist bei VW derzeit noch keine nachhaltige Aufwärtsentwicklung in Sicht.

Ziemlich robust ist der Geschäftsverlauf beim Dax-Schwergewicht Linde. Der Umsatz kletterte im dritten Quartal um 15 Prozent auf 8,8 Milliarden Dollar. Für das Gesamtjahr wird nun ein Gewinnanstieg von 12 bis 13 Prozent ins Auge gefasst. In Europa sind die Umsätze wegen Preiserhöhungen zuletzt zwar noch gestiegen, der Absatz aber war leicht rückläufig. In Amerika, mittlerweile der größte Markt für den Industriegasespezialisten, erzielt Linde dagegen Mengen- und Preiszuwachs.

Nicht gut kommt an der Börse die Absicht Lindes an, sich vom deutschen Aktienmarkt zurück zu ziehen. Die Begründung Lindes, die Doppelnotierung hätte einen negativen Einfluss auf die Bewertung, ist wenig stichhaltig: Mit einer 4,4-fachen Umsatzbewertung und einer mehr als 30-fachen Gewinnbewertung werden Linde-Aktien derzeit auf dem Niveau hochrentabler Pharma-Aktien gehandelt – obwohl deren Rentabilität mit Nettomargen von mehr als 20 Prozent noch deutlich über der Nettomarge von Linde liegt, die in diesem Jahr vielleicht 13 Prozent erreichen könnte.

Der Rückzug Lindes vom deutschen Aktienmarkt hat andere Gründe. Durch die Fusion mit der amerikanischen Praxair ist Linde ein US-dominiertes Unternehmen geworden. Zugleich waren schon bisher die Wachstumsraten und Margen im US-Geschäft stabiler und höher als in Europa. Zudem zeichnen sich durch politische und geopolitische Entwicklungen in Deutschland und Europa für den Geschäftsverlauf von Linde Risiken ab, die so in Amerika nicht bestehen. Zugleich ließen sich durch die Konzentration auf eine zentrale Börsennotiz Aufwand und Kosten senken.

Ob es wirklich hierzulande zu einem Delisting von Linde kommt und ob dem womöglich ein weiterer operativer Rückzug folgt, ist noch offen. Dass einer der erfolgreichsten Konzerne weltweit eine solche Strategie einschlägt, ist für Deutschland und Europa als Wertpapier- und Unternehmensstandort jedenfalls kein gutes Zeichen. Linde-Aktien ließen sich im Fall des Rückzugs aus Deutschland natürlich weiterhin handeln – und wenn auch vielleicht nur über Hinterlegungsscheine der amerikanischen Hauptnotiz.

Fazit für den Dax

Nach vier Wochen Kursanstieg und, gemessen an den Tagesschlusskursen, bisher 1235 Punkten Kursgewinn (10 Prozent), ist der Dax bis an seinen seit Januar bestehenden Abwärtstrend gekommen. Zugleich konnte er die ausgeprägte Konsolidierungszone, die seit langem zwischen 12.500 bis 13.000 Punkten besteht, überwinden. Das ist angesichts des schwierigen Umfelds aus Inflation, abkippender Konjunktur und geopolitischen Belastungen eine bemerkenswerte Leistung. Zwar liegt der Anteil der Aktien, die unterhalb ihrer 200-Tage-Linie verlaufen, immer noch bei 75 Prozent; die allgemeine Baisse-Tendenz überwiegt also nach wie vor. In der jüngsten Erholung aber zogen viele wichtige Einzelwerte mit: besonders Airbus, Allianz, BASF, BMW, Deutsche Bank, Münchener Rück und selbst Schwergewicht SAP.

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Nach vier Wochen Kursanstieg und den jüngsten Enttäuschungen bei US-Techwerten liegt eine Verschnaufpause in der Luft. Zudem steht am 2. November die nächste Richtungsentscheidung der amerikanischen Notenbank Fed bevor. Eine weitere Zinserhöhung um 0,75 Prozentpunkte und eine harsche Inflationskommentierung durch Fed-Chef Jerome Powell könnten den Märkten wieder einen schweren Dämpfer versetzen. Auch den Dax dürfte das abermals unter Druck setzen. Entscheidend wäre es, dass die Indexkurve auch in diesem Fall kein neues Tief mehr bildet und möglichst über 12.000 Punkte bleibt.

Sollte die Fed allerdings deutlicher als bisher auf die Risiken der Rezession weisen, gäbe das Spielraum für weitere Zinshoffnungen – und für den Dax Potenzial bis in den Bereich um 14.000 Punkte.

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