Tauchsieder
Konfrontation zwischen USA und China Quelle: imago images

Droht ein dritter Weltkrieg?

Die USA und China überziehen sich nicht mehr nur mit Drohungen. Sondern sie überzeichnen ihr Bedrohtsein zu Karikaturen der Konfrontation – und drohen die Kontrolle über ihre Feindzuschreibungen zu verlieren. Ein Spiel mit dem Feuer. Eine Kolumne.

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Am 3. Dezember 1922 schreibt Lu Xun die Vorrede zu seiner Erzählsammlung „Aufruf zum Kampf“. Der chinesische Schriftsteller prägt darin die Metapher der „schlafenden Menschen“ in der „eisernen Kammer“: Seine Landsleute verdämmern ihr Leben in Apathie und Aberglaube, Gehorsam und Gleichgültigkeit, verzwergt von der Disziplinargewalt konfuzianischer Traditionen. Er schildert ein Land und ein Volk der schulterzuckenden Antriebsarmut, das seine Zukunft verspielt (und in der Erzählung „Tagebuch eines Verrückten“ buchstäblich seine Kinder auffrisst), weder offen für Impulse aus dem Westen, noch stark genug, alte Zöpfe abzuschneiden, ohne sich dabei selbst zu verleugnen: „Sie werden aus dem Tiefschlaf in den Tod übergehen und die Tragödie des Sterbens nicht empfinden.“

Lu Xun (1881 – 1936) lernte Deutsch in Nanjing, studierte Medizin in Japan, kehrte 1908 nach China zurück – und verschrieb sich nach dem Sturz der Qing-Dynastie der Aufgabe, seine Landsleute wachzurütteln, den „stumpfsinnigen Zuschauern“ und „willenlosen Objekten“ einen Veränderungs- und Behauptungswillen anzutrainieren, sie einerseits mit den zivilisatorischen Errungenschaften Europas und andererseits mit nationalem Selbst-Bewusstsein zu impfen gegen überlebte Traditionen und Fremdbestimmung. Und er schloss sich 1919 der „Bewegung des vierten Mai“ an, der ersten politischen Massenbewegung Chinas, die im Protest gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags wurzelt – ein bis heute folgenreicher Wendepunkt in der Geschichte des Landes.

China und die verpassten Chancen des Westens

China schickte im Ersten Weltkrieg 140.000 Industriearbeiter nach Frankreich, um die Alliierten bei der Mobilisierung von Soldaten zu unterstützen, trat 1917 in den Krieg ein – und zählte als kleine Siegermacht in Versailles vor allem auf US-Präsident Woodrow Wilson und seine hochfliegenden Pläne vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Doch die USA enttäuschten China. Großbritannien und Frankreich hatten Geheimabkommen mit Japan geschlossen und dekretierten am 30. April 1919, unterstützt von den USA, dass das 1914 den Deutschen abgerungene Kiautschou (Qingdao) japanisch bleiben solle.

Kurzum: Die Macht brach damals das Recht. China fühlte sich betrogen und weigerte sich später, den Versailler Vertrag zu unterzeichnen. Langfristig wichtiger war, dass viele Intellektuelle sich in Peking und Shanghai abzuwenden begannen von der Idee der liberalen Demokratie – und sich nach alternativen Möglichkeiten umsahen, um die politische Zukunft des Landes zu gestalten. Bald darauf sollte das Land in einem Bürgerkrieg zwischen autoritären Nationalisten und Kommunisten versinken (bis 1949), sich in Kulturrevolutionen ruinieren und im toten Winkel der ökonomischen Selbstbehinderung verschwinden (bis 1978).

Das Beispiel zeigt: Die Geschichte des Westens und seiner aufklärerischen Ideale ist immer auch eine Geschichte der Macht und des Zwangs, der Selbsterhöhung und der Willkür, der politischen Federstrichgesten – und der verpassten Chancen. Ein selbstbewusstes China, westlichen Menschenrechtsidealen gegenüber aufgeschlossen und demokratisch gesinnt, die internationale Rechtsordnung respektierend und kooperierend in die Weltwirtschaft integriert, das war 1919 eine realpolitische Option und noch kein Selbstbetrugsnarrativ amerikanischer und europäischer Manager, die sich dann 1999 oder 2009 in Peking und Shanghai mit inbrünstig-selbstinteressierter Naivität das Hohelied vom „Wandel durch Handel“ vorsingen sollten.

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Die kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat das Land nicht viereinhalb Jahrzehnte lang modernisiert, um sich zur Krönung ihrer großen Verdienste selbst abzuschaffen. Der Westen, allen voran die USA, wird lernen müssen, mit einem kaderkapitalistisch verfassten China zu leben. Und er sollte schleunigst anfangen, Strategien der Koexistenz zu entwickeln, um mit Peking am Abbau von Spannungen zu arbeiten, die sich inzwischen allzu leicht in einem Weltkrieg entladen könnten, fürchtet etwa der Yale-Ökonom Stephen Roach. Und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger warnte schon im April 2021: „Wenn wir nicht zu einer Verständigung mit China gelangen, …. werden wir in eine Situation geraten, wie sie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg herrschte…“.

Tatsächlich überziehen sich die USA und China (wie einst die europäischen Mächte) längst nicht mehr nur mit Drohungen. Sondern sie überzeichnen ihr Bedrohtsein zu Karikaturen der Konfrontation und drohen die Kontrolle über ihre Feindzuschreibungen zu verlieren. Beide Weltmächte degradieren sich seit Wochen zu Sklaven einer Dynamik aus Reaktion und Gegenreaktion und folgen nurmehr der Eigenlogik serieller Provokationen auf der Basis sich stetig verfestigender Welt- als Feindbilder. Ein riskantes Spiel. Ohne Gewinner. Und im Fall der USA auch ohne Strategie.

Denn paradoxerweise haben der russische Einmarsch in die Ukraine und der dezidiert antiwestliche Freundschaftspakt zwischen Russland und China im Februar 2022 nicht nur dazu geführt, dass sich die Demokratien des Westens gegen einen „autokratischen Block“ wieder verstärkt ihrer selbst vergewissern. Sondern auch dazu, dass das schroffe Gefälle zwischen der Abbruchdiktatur in Moskau und der Aufbruchdiktatur in Peking erkennbar wird.

Beide Regime eint der Wille zur Unterdrückung von Kritik und zur Ausschaltung der Meinungsfreiheit, zur Kontrolle ihrer Bevölkerungen und zur gewaltsamen Durchsetzung ihres Machtanspruchs. Doch während viele junge Russen der verschärften Tyrannei in ihrer Heimat den Rücken kehren, kann die KPCh auf den Zuspruch der überwältigenden Mehrheit ihrer Bevölkerung zählen. Die 134 Millionen chinesischen Touristen, die (im Jahr vor Corona) etwa Europa, Australien, die USA oder Kanada bereisten, haben nicht mal im Traum daran gedacht, ihrer Diktatur zu entkommen. Auch strömten aus China zuletzt 800.000 Studenten pro Jahr ins Ausland, sechs Millionen seit 1978 allein in die USA – und die allermeisten kehrten gern wieder zurück.

Warum ist das so? Nun, weil die meisten Chinesen nie besser regiert wurden als in den vergangenen 40 Jahren. Ihre persönliche Freiheit war nie größer als heute. Ihre Lebensbedingungen haben sich so schnell und stark verbessert wie nie zuvor in der 2200-jährigen Geschichte des Landes – übrigens ganz im Gegensatz zu den Lebensbedingungen der unteren Mittelschicht in den USA.

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Während Putin die letzten Tropfen Gas und Öl aus der russischen Erde presst, um mit den Erträgen seiner fossilen Feudalwirtschaft Cyberkrieger und Schlagstockpolizisten, Desinformationsprofis und Generäle hochzurüsten, haben Chinas Kader mit Sonderwirtschaftszonen, orchestrierten Technologieimporten, erzwungenem Know-how-Transfer und groß angelegten Infrastrukturmaßnahmen zugleich eine halbe Milliarde Menschen der Armut entrissen.

Während Russland sich der Welt nurmehr als gestrige und destruktive Kraft aufdrängt mit dem Export von fossilen Brennstoffen und Falschnachrichten, mit den Fertigkeiten seiner Hackersoldaten und Militärmaschinerie, punktet China in der Welt (auch) mit künstlicher Intelligenz, Solartechnologie und avancierter E-Mobilität – als technologischer Superstaat von heute und morgen.

Im Übrigen hat China ganz im Gegensatz zur Sowjetunion, Russland und den USA seit vielen Jahrzehnten keine völkerrechtswidrigen Interventionskriege (Irak! 100.000 Tote!) geführt, sich mit zunehmender Macht und seit dem Ende des Kalten Krieges sogar weniger denn je eingemischt in die Belange anderer Staaten. Peking hat mit Kopfschütteln beobachtet, wie sich Washington im Mittleren Osten militärisch und finanziell verausgabte, während man selbst wirtschaftlich erstarkte, global Vertrauen aufbaute und sich anderen Nationen unterschiedslos als stabiler, verlässlicher Win-Win-Partner empfahl: in Südostasien, Europa, Afrika, Südamerika und der arabischen Welt. Was für eine diplomatische Demütigung der USA diese Woche, als ausgerechnet China eine Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien vermitteln konnte – als unparteiischer Friedensstifter in einer Region „heiliger“ Stellvertreterkriege.

Kurzum: Die Bildung eines „autokratischen Blocks“ mit Russland ist für China nur das Mittel einer außenpolitischen Aufstiegsstrategie; dessen Ziel und Zweck es ist, der Welt in zwei Jahrzehnten als politisches Gravitationszentrum und gütiger Hegemon zu erscheinen – ihr „Reich der Mitte“ zu sein. Für Xi Jinping ist Wladimir Putin insofern nützlich, weil er Kräfte der USA bindet – und gefährlich, weil er als enger Partner Chinas Doktrin der „Nichteinmischung“ in andere Staaten unterläuft.

Xis Ehrgeiz gilt der Wiederherstellung von Chinas Rang als große, nein: größte Weltkulturnation. Und Xi hat der Welt viel Bejahbares anzubieten. Seine Politik wird getragen von immensen Wohlstandszuwächsen im Land, begrüßt von der Mehrheit einer wachstumshungrigen, nationalstolzen (han-chinesischen) Bevölkerung – und mindestens respektiert in vielen Schwellenländern. Seine Außenpolitik ist (bisher) nicht invasorisch und expansiv, sondern wirtschaftsstrategisch, zunehmend robust und (schein-)integrativ: China strebt die nationale Einheit (inklusive Hongkong und Taiwan) und eine „Pax Sinica“ an, eine Weltinnenpolitik hierarchischer Geborgenheit, eine Kooperation und Koexistenz souveräner Staaten, die sich mehr oder weniger „freiwillig“ dem Hegemon China fügen – und so lange von dessen strenger Güte profitieren, wie sie sich seiner unwiderstehlichen Anziehungskraft und Systemüberlegenheit fügen.

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