Engpässe bei Arzneien „Tauschbörsen? Medikamente sind keine Smarties“

Auch unterm Weihnachtsbaum leiden viele unter der Erkältungs- und Grippewelle. Quelle: Getty Images

Fieber, Husten, Halsschmerzen: Mehr als neun Millionen Menschen sind derzeit krank, zugleich fehlt es an Ibuprofen und Antibiotika. Hausärztechef Markus Beier hat Tipps, wie Sie gesund ins neue Jahr kommen.

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WirtschaftsWoche: Herr Beier, rund neun Millionen Menschen husten und schniefen, zeigen die aktuellen Zahlen vom Robert-Koch-Institut. Ist die Grippe- und Erkältungswelle in diesem Jahr besonders schlimm?
Markus Beier: Die Erkältungs- und Grippewelle kommt in diesem Jahr besonders früh und besonders heftig – das ist in dieser Intensität ungewöhnlich, kommt aber durchaus vor, wenn man sich die Winter der vergangenen 20 Jahre anschaut. Die Wellen fangen mal früher an, mal fallen sie weniger stark aus, dieses Jahr eben besonders heftig. Klar ist nur eines: Im Winter haben Viren Saison – und saßen deshalb auch mit unterm Weihnachtsbaum. 

In den vergangenen Corona-Wintern haben viele Menschen ihre Kontakte reduziert und sich besonders geschützt. Ist unser Immunsystem deshalb weniger gut trainiert worden?
Es ist nachvollziehbar, dass manche Menschen eine solche Erklärung suchen – aber tatsächlich haben Erwachsene in aller Regel ein ausgewachsenes Immunsystem, das nicht einfach aus dem Tritt gerät, nur weil man häufiger eine Maske trägt oder Kontakte reduziert hat.

Gefühlt ist gerade allerdings mindestens halb Deutschland krank.
Ja, in diesem Jahr ist die Welle besonders stark – keine Frage. Grundsätzlich ist das aber ein durchaus erwartbares Infektionsgeschehen. Im Winter und gerade zur feierlichen Jahreszeit sitzen wir nun mal häufiger in geschlossenen Räumen und enger beisammen, da breiten sich die Viren eben schneller aus – vor allem, wenn man sich nach den kontaktarmen Coronawintern jetzt umso lieber wieder trifft. Die Infekte ballen sich aktuell schlichtweg sehr stark.

Zur Person

Wer derzeit einen Arzttermin will, wird oft vertröstet. Können die Hausärztinnen und Hausärzte den Ansturm noch bewältigen? 
Was gerade in den Praxen passiert, ist tatsächlich nicht mehr lustig. Viele Teams arbeiten längst über dem Limit – und das schon seit Beginn der Coronapandemie. Wir versorgen in unseren Praxen ja nicht nur Infekte, sondern beispielsweise auch die Patienten mit chronischen Erkrankungen. Das ist ja nicht weniger geworden.

Der Deutsche Städtetag fordert, dass Sie Ihre Praxen länger öffnen sollen, damit sich die Lage auch in den Notfallambulanzen entspannt. Ist das eine gute Idee?
Nein, diese Forderung ist absurd. Schon jetzt werden in den Praxen Überstunden geschoben, damit die Infektpatienten so gut wie möglich versorgt werden können. Noch mehr arbeiten können die Kolleginnen und Kollegen schlichtweg nicht. Die vollen Praxen offenbaren aber eben auch die Versäumnisse der vergangenen Jahre.

Um den Mangel an Kinderarzneien zu bekämpfen, will Bundesgesundheitsminister Lauterbach die Hersteller mit höheren Preisen ködern. Doch das reicht nicht: Die Probleme in der Kindermedizin gehen viel tiefer. 
von Jürgen Salz

Was haben Karl Lauterbach und seine Vorgänger im Gesundheitsministerium mit Blick auf die Praxen versäumt?
Unser ambulantes System funktioniert größtenteils quartalsweise. Chronisch kranke Patienten müssen mindestens zweimal pro Quartal kommen, auch wenn das medizinisch gar nicht notwendig ist. Die Deutschen gehen im Schnitt je nach Studie zwischen zehn und 18 Mal pro Jahr zum Arzt. Das ist auch im internationalen Vergleich extrem häufig. Wenn dann noch eine Infektionswelle wie aktuell hinzukommt zeigt sich, wie sehr dieses System an seine Grenzen stößt.

Was ist die Alternative?
Wir müssen weg vom Quartal und die hausärztliche Versorgung in Jahrespauschalen denken. So verstopfen wir nicht den Kalender mit Terminen, die medizinisch nicht notwendig sind und haben mehr Spielraum, für die, die uns wirklich brauchen. Honoriert werden sollte die Versorgung der Patienten – nicht die schiere Anzahl an Arzt-Patienten-Kontakten.  

Engpässe gibt es auch bei Medikamenten. Bei mehr als 300 Medikamenten werden aktuell Lieferschwierigkeiten gemeldet, vor allem Eltern sind in Sorge, weil Fiebermittel und Antibiotika für Kinder knapp sind. Hat Lauterbach nicht vorausschauend genug geplant? 
Die aktuellen Probleme würde ich nicht ihm direkt zuschreiben. Sie reichen deutlich weiter zurück. Die Herstellung von Medikamenten wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf immer weniger Produzenten konzentriert. Wenn dann auch nur eine Komponente in der Lieferkette ausfällt, gibt es schon große Probleme. Daran wird auch das neue Gesetz von Lauterbach kurzfristig wenig ändern können.

Bitten viele Patienten jetzt um Rezepte, damit sie ihren Vorrat aufstocken können?
Ja, solche Patienten gibt es, aber nur vereinzelt – und zumindest bei mir in der Praxis haben sie keinen Erfolg. Denn schon die Nudel- und Toilettenpapierengpässe in der Pandemie haben gezeigt: Hamstern bringt nichts, sondern macht die Lage nur noch schlimmer.

Ärztepräsident Reinhardt schlägt vor, dass es Tauschbörsen für gefragte Medikamente geben sollte – ist das praktikabel?
Nachbarschaftshilfe gab es schon immer und wer mal eine Paracetamol-Tablette oder etwas Fiebersaft braucht, dem ist dadurch gut geholfen. Aber grundsätzlich sind solche Tauschbörsen nicht sinnvoll, denn Medikamente sind keine Smarties. Man sollte sie nur nach medizinischer Empfehlung beziehungsweise Verschreibung einnehmen.

Was wäre sinnvoller?
Gegen die aktuellen Lieferengpässe habe ich auch kein schnelles Rezept zur Hand. Perspektivisch wäre es hilfreich, wenn wir Hausärztinnen und Hausärzte bestimmten Notfallmedikamenten wie Schmerzmitteln und Antibiotika direkt an die Patienten ausgeben dürften. Bisher wird dieses Recht nur Apotheken zu teil, aber die Versorgung mit Paxlovid für akute Coronapatienten hat ja gezeigt, dass Hausärztinnen und Hausärzte das ohne Zweifel leisten können. Das hilft natürlich auch nicht gegen die aktuellen Lieferengpässe, würde aber insgesamt die Medikamentenversorgung langfristig vereinfachen.

Während in Deutschland die Grippewelle rollt, rauscht das Coronavirus durch China. Das Ausmaß ist nicht unabhängig zu überprüfen, aber einige Medien berichten, dass die Krankenhäuser und Krematorien voll sind, es drohen Millionen Tote.  Wird diese Welle auch wieder nach Europa kommen? 
Es ist bisher nicht abzusehen, welche Folgen der massive Coronaausbruch in China haben wird. Eines aber zeigt diese Welle ohne Zweifel: Die Pandemie ist noch längst nicht vorbei.   

Zumindest hierzulande hoffen auch viele Unternehmen, dass die Erkältungs- und Grippewelle wieder abebbt und sie ihr Personal wieder besser einsetzen können. Ist im neuen Jahr Entspannung abzusehen? 
Ich denke, dass wir bald den Scheitelpunkt der aktuellen Welle überschreiten und sie im Januar abebbt. Trotzdem stehen die Zeichen nicht auf Entspannung: Die Praxen bleiben voll, die Notfallversorgung in den Kliniken ist mit vielen Patienten und wenig Pflegepersonal schwierig. Einen leichten Winter haben wir deshalb nicht vor uns.  

Keine gute Perspektive. Was ist also Ihr ultimativer Tipp, um erst gar nicht krank zu werden?
Wichtigste Regel: Wer Erkältungssymptome hat, der soll zu Hause bleiben – so sehr es auch schmerzt, wenn man jetzt schon wieder die Weihnachtsfeier verpasst. Die Familie, Freunde und Kollegen werden es demjenigen danken. Ansonsten sind Masken ein sehr guter Schutz, gerade auch in Innenräumen mit vielen Menschen.

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