Tauchsieder
Olaf Scholz präsentiert eine Gasturbine, um Wladimir Putin der Lüge zu überführen – und diskreditiert damit seine Glaubwürdigkeit Quelle: Getty Images

Die Gasturbine offenbart sich als Erscheinung politischer Verantwortungsflucht

Olaf Scholz präsentiert eine Gasturbine, um Wladimir Putin der Lüge zu überführen – und diskreditiert damit seine Glaubwürdigkeit: Wer mit einem Diktator um die Wahrheit ringt, geht dessen Propagandazielen bereits auf den Leim.

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Am späten Nachmittag des 3. Juli 1876 sammeln drei achtjährige Mädchen im Härtelwald bei Marpingen Heidelbeeren, als das abendliche Angelusläuten sie zurück ins Dorf ruft. Katharina, Susanna und Gretchen eilen nach Hause und queren eine wilde Wiese, als Susanna plötzlich stehen bleibt und den beiden anderen bedeutet: Sie hat am Waldrand eine in Weiß gekleidete Frauengestalt gesehen, mit einem Kind auf den Arm, und tatsächlich: Auch die beiden anderen Mädchen schauen jetzt hin und bezeugen, die Muttergottes zu sehen, mit eigenen Augen: Es gibt sie. Sie ist da.

Als die verstörten Kinder wenig später zu Hause ankommen, sind die Eltern dankbar bereit, ihnen Glauben zu schenken: „Geht morgen wieder in den Wald und betet, und wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei.“ Also kehren die Kinder zurück an den Ort der Erscheinung, begleitet von 20 weiteren Kindern und einem Erwachsenen, und wahrhaftig, Maria zeigt sich erneut und bestätigt ihre Identität: „Ich bin die unbefleckt Empfangene.“

Eine Woche später haben bereits Dutzende die Präsenz der Muttergottes bestätigt, es ziehen 20.000 Pilger durch den Ort, es werden laufend Menschen geheilt – und das kleine, saarländische Marpingen avanciert in den nächsten Monaten zu Deutschlands führendem Umschlagplatz von Heilwasser und sakraler Erde, Kruzifixen und Rosenkränzen – läuft als Wallfahrtsort zwischenzeitlich sogar Lourdes den Rang ab.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz ist vergangene Woche etwas erschienen. Natürlich nicht Maria Immaculata, für die kein Platz ist in einer Welt und Zeit, in der die Menschen sich nicht mehr sola gratia in die Hände Gottes begeben und lieber auf die Schöpfungen der Ingenieure vertrauen. Statt dessen huldigte Scholz ganz zeitgemäß einer „Immaculate Machine“, einer makellosen Gasturbine, Marke Siemens, Made in Germany – ein „beeindruckendes Stück Technik“, sagte der Kanzler ergriffen und legte wie zur Bestätigung der Echtheit seines Wahrheitsurteils seine Hand auf das 18,5 Tonnen schwere Wunderwerk deutscher Maschinenbaukunst.

Auf diese Weise konnte Scholz sich gegenüber einer mitgereisten Zeugengemeinschaft (Journalisten, Fotografen) nicht nur „dankbar“ zeigen für den auratischen Moment der Verifikation, also für die Möglichkeit, einen vormaligen Gegenstand der öffentlichen Spekulation und des guten Glaubens „mit eigenen Augen“ zu authentifizieren. Sondern Scholz konnte seinen optischen Eindruck auch noch taktil bekräftigen, um der Welt zu versichern: „Es gibt sie. Sie ist da. Das ist die Gasturbine, die auf ihren Einsatz wartet.“

Aber ist sie das und gibt es sie auch wirklich? Was, wenn es sich nur um die Attrappe einer Gasturbine handelte? Wenn Scholz sich nicht etwa vor die frisch gewartete Gasturbine aus Kanada gestellt hätte, deren Abwesenheit Russland behauptet, sondern vor eine andere, die Siemens aus seinem Bestand genommen und für Scholz’ Fototermin flugs aufpoliert hätte? Oder aber wenn die vorgeführte Gasturbine zwar tatsächlich die eine, frisch gewartete Gasturbine aus Kanada wäre – sie aber gar nicht funktionierte?

Diese Fragen bleiben offen für jeden, der sie stellen will, um Scholz’ Glaubwürdigkeit anzuzweifeln – auch und gerade nach seinem Turbinen-Testat. Es ist sicher, dass der Kanzler mit seiner Zeigegeste Teile der deutschen Öffentlichkeit, etwa Russlands Emissär Gerhard Schröder, weniger denn je überzeugt – so wenig wie einst Pilatus’ die kreuzigungslüsterne Menge mit dem Hinweis auf die Menschlichkeit des gegeißelten Jesu: Ecce Homo? Ecce Machina? Wer darauf pfeifen will, pfeift darauf.



Was Scholz zu entgehen scheint: Die Tatsachenwahrheit kann im Bereich des Politischen nicht konkurrieren mit der Lüge, weil sie an sich nicht politisch ist, die Lüge aber schon. Denn während die Wahrhaftigkeit der Gasturbine nur im Tatbestand ihrer Existenz manifestiert wird und sie sich uns Menschen als Gasturbine allein kraft Präsenz und im interesselosen Herzeigen und Hinweisen erschließt, ist (erst) ihr Belügen ein (tätiges) Dementi – nämlich dessen, was ist: mit dem (politisch interessierten) Ziel, die Welt der Tatsachen zu verändern.

Es war Hannah Arendt, die bereits 1967 in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ darauf hingewiesen hat, dass es deshalb schlecht bestellt ist „um die Chancen der Tatsachenwahrheit, dem Angriff politischer Macht zu widerstehen“. Denn „während das Lügen immer… ein Handeln ist, ist das Wahrheitssagen… dies gerade nicht.“

Natürlich kann Scholz als Zeuge der Gasturbinen-Wahrhaftigkeit auftreten, also „versuchen, mit der Betonung bestimmter Tatsachen eine politische Rolle zu spielen“. Das Problem ist, dass er sich mit seiner Zeugenschaft erkennbar in den Dienst (s)eines politischen Interesses stellt – und damit Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit sät – eine Ressource, von der er als Anwalt und Zeuge der Tatsachenwahrheit unbedingt abhängt, der Lügner hingegen nicht: „Der Lügner… hat den großen Vorteil, dass er immer schon mitten in der Politik ist. Was immer er sagt, ist nicht ein Sagen, sondern ein Handeln; denn er sagt, was nicht ist, weil er das, was ist, zu ändern wünscht“, so Hannah Arendt – etwa indem er versucht, „die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen“ oder „Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen“ zu ersetzen.

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