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Quelle: dpa

Handelspolitik: Pragmatisch nach Westen schauen

Wenn es um den Außenhandel geht, scheinen Deutschland und die EU in den vergangenen Jahren vor allem vom Wohl und Wehe Chinas abhängig zu sein. Doch das ist zum Teil einem verengten Blick auf den Güterhandel geschuldet. Höchste Zeit, auch dem Westen wieder Aufmerksamkeit zu widmen.

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Die Bekanntgabe neuer Handelsdaten durch die EU ist normalerweise kein großes Medienereignis. Doch als die Statistikbehörde Eurostat Mitte Februar ihre vorläufigen Schätzungen für den EU-Außenhandel im Jahr 2020 vorlegte, schlugen die Wellen hoch: China überholt die USA als wichtigsten Handelspartner der EU, lauteten die Schlagzeilen von der BBC bis zum Spiegel. Die vermeintliche Zeitenwende ist bei genauem Hinschauen allerdings keine. Der Fehlschluss beruht auf dem gleichen verengten Blick, der auch viele handelspolitische Entscheidungen in den vergangenen Jahren zu prägen scheint: Betrachtet wird nur der Güterhandel.

Bezieht man dagegen den zunehmend wichtigen Dienstleistungshandel ein und schaut auf die maßgeblichere Leistungsbilanz, dann bleiben die USA bei weitem der bedeutendste wirtschaftliche Partner der EU. An zweiter Stelle rangiert das gerade als EU-Mitglied verlustig gegangene Großbritannien. Erst an vierter Stelle folgt China, dessen Bedeutung im Außenwirtschaftsverhältnis der EU in etwa mit der drittplatzierten Schweiz vergleichbar ist. Die verzerrte Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse – und ein unsäglicher US-Präsident – haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die USA und andere westliche Partner handelspolitisch vernachlässig wurden. Zudem waren Entscheidungen häufig dogmatisch geprägt, statt sich pragmatisch an ökonomischer Relevanz zu orientieren. Es ist höchste Zeit, das nun zu ändern.

Statistik des Güterhandels unterzeichnet Bedeutung der USA

Die Einnahmen der 27 EU-Länder durch Transaktionen mit den USA belaufen sich auf 823 Mrd. Euro (Stand 2019). Es folgen das Vereinigte Königreich mit 760 Mrd. Euro, die Schweiz mit 361 Mrd. Euro und China mit 357 Mrd. Euro. Diese Leistungsbilanzsummen enthalten Einnahmen aus Exporten von Waren und Dienstleistungen sowie im Ausland erzielte Kapitalerträge, so genannte Primäreinkommen. Dazu zählen auch die Gewinne von Tochterunternehmen im Ausland. Ebenso sind Sekundäreinkommen enthalten, also Zahlungen ohne erkennbare Gegenleistung wie etwa Entwicklungshilfe oder Strafen, die etwa deutsche Banken in den USA zahlen mussten.

In umgekehrter Handelsrichtung sind ebenfalls die USA und Großbritannien die wichtigsten Transaktionspartner: Aus den EU-Länder fließen in die USA 670 Mrd. Euro, in das Vereinigte Königreich 526 Mrd. Euro. China folgt auf Rang drei mit 421 Mrd. Euro und dann die Schweiz mit 274 Mrd. Euro.

Eine auf Güter fokussierte Statistik unterzeichnet dagegen die Bedeutung der USA als Handelspartner und überzeichnet jene Chinas. Die Warenexporte der EU in die USA machen nur etwa die Hälfte des kompletten Volumens der Leistungsbilanz aus, die Warenimporte nur etwa 35 Prozent. Bei China sind es 70 beziehungsweise 85 Prozent. Zwar nimmt die Bedeutung Chinas zu, doch auf absehbarer Zeit werden die USA der wichtigste wirtschaftliche Partner bleiben.
Strategische Weitsicht in Handelspolitik nicht erkennbar.

Es fällt auf, dass in der Handelspolitik der EU gegenüber allen vier Top-Partnern keine konsistente Strategie erkennbar ist: In den Beziehungen zu Großbritannien hätte die EU-Kommission Ende 2020 beinahe das Scheitern eine Brexit-Abkommens in Kauf genommen wegen ökonomisch nahezu irrelevanter Fischfangrechte. Kürzlich irrlichterte die EU-Kommission dann mit Impfstoffexportkontrollen, die die Nordirland-Regelung offenkundig verletzt und damit den nächsten Konflikt mit Großbritannien provoziert hätten. Sie nahm sie am selben Tag wieder zurück.

Aber vor dem Hintergrund der großen Bedeutung als Handelspartner für die EU erscheint der Umgang mit den Briten befremdlich. Eine ökonomisch langfristig gedachte Strategie sieht anders aus.
Gleiches gilt für die USA. Statt der neuen Regierung entgegenzukommen und Gespräche über die Rücknahme der unter Trump verhängten Zölle zu initiieren, verhängte die EU-Kommission sechs Tage nach der Wahl Joe Bidens neue Zölle in Folge des andauernden Streits um Subventionen für den Flugzeughersteller Boeing.

von Max Haerder, Julian Heißler, Jörn Petring, Silke Wettach

Die Briten legten ihren Teil dieses Streits hingegen noch in den letzten Amtstagen Donald Trumps bei. Erst im März gelang der EU wenigstens die beiderseitige Aussetzung der Airbus-Boeing-Zölle für zunächst vier Monate. Angesichts der herausragend wichtigen Rolle der Amerikaner als Handelspartner, ist es dringend geboten, einen strategischen Plan für die Entwicklung der Handelsbeziehungen vorzulegen und die Europäer auf die erforderlichen Zugeständnisse, etwa im Agrarbereich, vorzubereiten.

Mit China schloss die EU im Dezember 2020 offenbar unter erheblichem deutschen Druck ein Investitionsabkommen – immerhin so etwas wie ein Rahmenwerk für die weiteren Wirtschaftsbeziehungen. Es verspricht einen besseren Marktzugang. Der Investitionsschutz wurde aber auf die lange Bank geschoben, auch, weil sich die EU bei diesem Thema selbst nicht über ihre Strategie im Klaren ist. Während das Europäische Parlament eine Resolution vorbereitete, Waren aus der chinesischen Provinz Xinjiang wegen des Einsatzes von uigurischen Zwangsarbeitern zu boykottieren, setzt die Kommission schon ihr neues, viel nützlicheres Instrumentarium für gezielte Sanktionen gegen einzelne Unternehmen und Personen ein. Ein langfristiger strategischer Plan der EU für den Umgang mit China ist noch nicht gefunden.

Westlichen Partnern mehr Aufmerksamkeit widmen

Gerne übersehen wird die vermeintlich kleine Schweiz, mit der es erhebliches Konfliktpotenzial gibt. Mit den Eidgenossen ist die EU unter den genannten vier Haupthandelspartnern am engsten vertraglich verflochten. Die EU möchte über 100 bilaterale Verträge, die derzeit das Verhältnis der Schweiz zur EU regeln, durch ein Rahmenabkommens ersetzen. Dabei pocht sie auf die automatische Übernahme europäischer Regulierung sowie die Überwachung des Abkommens durch den Europäischen Gerichtshof. Das stößt in der Schweiz auf heftigen Widerstand und droht das Abkommen scheitern zu lassen. Nach dem Brexit droht nun ein Schwexit.

Es ist Zeit, dass die EU strategische Prioritäten in ihrer Handelspolitik setzt und sie pragmatisch an der Bedeutung ihrer Handelspartner ausrichtet. Ökonomisch am relevantesten wäre ein umfangreiches Freihandelsabkommen mit den USA. Dieses müsste aber die Agrar- und Dienstleistungssektoren einschließen, sonst wären die Amerikaner auch unter einem wohlwollenden Präsidenten kaum bereit, ein Abkommen zu akzeptieren, das auch EU-Interessen berücksichtigt. Für die Länder der europäischen Nachbarschaft sollten Abkommen gefunden werden, die den jeweiligen nationalen Befindlichkeiten sowie der gemeinsamen Außenwirtschaftstradition gerecht werden. Neben Großbritannien und der Schweiz darf auch die Türkei nicht übersehen werden, mit der die EU in einer längst nicht mehr zeitgemäßen Zollunion verbunden ist.

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Gegenüber China muss eine ehrliche Formel gefunden werden, die den weiteren wirtschaftlichen Austausch befördert, aber auch eine klare Abgrenzung zum dortigen politischen System enthält. Die EU sollte sich nicht im Geleitzug der Amerikaner in einen harten wirtschaftlichen Konflikt mit China begeben. Aber den politischen Systemwettbewerb sollten die Europäer annehmen. Sie können mit Recht darauf verweisen, dass sie auf Basis liberaler Gesellschaften seit Jahrzehnten für eine verlässliche und multilaterale Weltordnung eintreten, die eine wichtige Voraussetzung für Chinas Aufstieg in der Weltwirtschaft war. Wenn die Europäer dann noch zeigen können, dass sie mit ihren westlich orientierten Partnern hervorragend im Geschäft und nicht nur von Chinas Märkten abhängig sind, haben sie einige gute Karten in der Hand.

Mehr zum Thema: Das jüngst beschlossene Investitionsabkommen der EU mit China steht direkt mächtig in der Kritik. Menschenrechtsexperten werfen der EU den Verrat ihrer Prinzipien vor.

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