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Alternative ProteineWie Europa die Zukunft der Ernährung verschläft

Fleisch aus Zellkulturen und Milch aus dem Bioreaktor – was in Singapur und den USA schon auf dem Markt ist, scheitert in der EU an komplizierten Zulassungsprozessen. Wie Europa einen Zukunftsmarkt ausbremst.Andreas Menn 07.05.2023 - 10:43 Uhr

Eiweiß aus Präzisionsfermentation von Onego Bio in den USA ist die Zulassung schneller und weniger kompliziert.

Foto: Onego Bio

Es könnte Millionen von Käfighühnern überflüssig machen, woran die Gründer von Onego Bio in Helsinki arbeiten: Die Biotechnologen erzeugen Eiweiß, genau wie in Hühnereiern – allerdings mit Hilfe von Mikroorganismen in einem Bioreaktor. „Wir nehmen die Henne aus der Gleichung“, sagt Anna Handschuh, verantwortlich für Nachhaltigkeit bei Onego Bio.

Präzisionsfermentation nennt sich die Technologie, mit der Onego Bio biologisch mit seinem tierischen Pendant identisches Eieralbumin viel effizienter und umweltfreundlicher herstellen kann als mit Tierhaltung. Die wissenschaftlichen Grundlagen für das Biotech-Eiweiß sind am VTT Technical Research Centre entstanden, einem renommierten finnischen Forschungsinstitut. Doch aktuell sieht es nicht so aus, dass die Gründer ihr Produkt auch als erstes in Finnland oder der EU auf den Markt bringen können. „Wahrscheinlich werden wir gezwungen sein, das Produkt als erstes in den USA auf den Markt zu bringen, da die Zulassungsverfahren in Europa jahrelang dauern können“, sagt Handschuh. „Und da sind wir nicht das einzige europäische Start-up.“

So ähnlich reden momentan viele Gründer, die an Lebensmitteln aus dem Bioreaktor oder Fleisch aus Zellkulturen arbeiten. Grund sind die umständlichen Zulassungsprozesse in der EU. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Unternehmen zunächst eine Zulassung in anderen Marktgebieten wie den USA oder Singapur anstreben“, sagt auch Pauliina Halimaa, Managing Director des finnischen Unternehmens Biosafe, das Biotechunternehmen in Zulassungsfragen berät, „da die Zulassung in der EU deutlich länger dauert“.

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Der Unterschied zu anderen Ländern ist beträchtlich: In der EU ziehe sich der Zulassungsprozess über zwei bis drei Jahre, in den USA nur über wenige Monate, heißt es in einem Bericht des Innovationsnetzwerkes EIT Food. Das müsse schneller gehen, heißt es darin weiter, und die Zulassungsverfahren müssten für kleine Unternehmen und Start-ups zugänglicher werden.

In Europa entwickelt, in den USA vermarktet

Es ist paradox: In der Grundlagenforschung und der Start-up-Landschaft bescheinigen Experten Europa eine starke Position, wenn es um neue Lebensmitteltechnologien geht. Zahlreiche Forschungsinstitute haben biotechnologische Verfahren wie die Präzisionsfermentation maßgeblich vorangebracht, den ersten Burger aus kultivierten Fleisch haben im Jahr 2013 niederländische Forscher vorgestellt. Gründer arbeiten an Fleisch, Fisch, Milchprodukten, für die keine Tiere mehr nötig sind.

Doch bei der Kommerzialisierung sind andere Länder schneller. Stichwort kultiviertes Fleisch: Singapur hat bereits im Jahr 2020 das erste Hühnchen aus kultivierten Zellen zugelassen – Chicken Nuggets vom US-Anbieter Eat Just. In den USA stehen sie und ein ähnliches Produkt nun auch kurz vor der Zulassung. Auch in Europa arbeiten Start-ups an solchen Produkten – doch noch kein Unternehmen hat die Zulassung überhaupt beantragt.

Ähnlich sieht es bei der Präzisionsfermentation aus. In Israel hat das Start-up Remilk gerade die Zulassung für Milchproteine aus dem Bioreaktor erhalten. In den USA hat das Unternehmen Impossible Foods bereits 2019 die Zulassung für einen blutähnlichen Farbstoff für seine Burger-Patties erhalten, den es mit Hilfe von Hefezellen herstellt. In Europa dagegen steckt Impossible Foods seit 2019 im Zulassungsverfahren fest. Bisher ist kein einziges Produkt aus Präzisionsfermentation in Europa zugelassen worden.




„Wir haben in Deutschland und Europa enorm gute Forscher und Gründer im Biotech-Bereich“, sagt Doreen Huber, Partnerin beim Wagniskapitalinvestor EQT Ventures, der etwa in das Berliner Fermentations-Start-up Formo investiert hat. „Das könnte eigentlich unsere Möglichkeit sein, ganz vorne mit dabei zu sein. Es ist ein großer Fehler und eine verpasste Chance, dass Europa bei neuen Lebensmitteltechnologien aktuell noch zu langsam agiert.“

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„Wir machen uns wirklich Sorgen, dass Europa bei den hier entwickelten, klimafreundlichen Lebensmittelinnovationen zurückfällt“, sagt Onego-Sprecherin Handschuh. Und da ist Onego Bio nicht allein. Kürzlich hat das junge Unternehmen darum zusammen mit vier anderen europäisch-israelischen Foodtech-Unternehmen im Bereich Präzisionsfermentation den Interessenverband Food Fermentation Europe gegründet.

Ein 290-Milliarden-Dollar-Markt

Denn es geht um Technologien, die möglicherweise ganze Teile der Lebensmittelindustrie umkrempeln können. Wer braucht noch Hühnerställe, wenn sich Eier im Labor nachbauen lassen, wer Kühe, wenn Fleisch in Tanks heranwachsen kann? Der Markt für alternative Fleisch-, Eier-, Milch- und Meeresfrüchteprodukte werde bis 2035 voraussichtlich mindestens 290 Milliarden US-Dollar erreichen, prognostizieren Experten der Boston Consulting Group.

Nicht nur fürs Geschäft, auch für die Klimaziele der EU kämen die neuen Produkte wie gerufen. Die Aufnahme neuartiger, tierfreier Lebensmittel  in die europäische Ernährung, so das Fazit einer Studie im Fachmagazin Natur Food aus dem Jahr 2022, könne das Erderwärmungspotenzial, den Wasserverbrauch und den Flächenverbrauch durch die Nahrungsmittelproduktion um über 80 Prozent senken.

„Es ist ein strategisch wichtiger Moment, und die EU sollte ernsthaft ihre Regulierungsprozesse überdenken“, sagt Pasi Vainikka, Gründer und Chef des finnischen Start-ups Solar Foods. Das Unternehmen arbeitet an einer Fabrik, die Proteine quasi aus Luft herstellt – mit Mikroorganismen, die sich von CO2, Wasserstoff und Mineralien ernähren.

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Im Herbst 2021 habe Solar Foods sowohl in der EU wie auch in Singapur die Zulassung für sein Fermentationsverfahren beantragt, erzählt Vainikka. Singapur gab den Gründern im September 2022 grünes Licht. In der EU dagegen stecken die Gründer immer noch im ersten von drei Stufen des Zulassungsverfahrens fest – 18 Monate nach Antragstellung. Was die Daten angehe, die die Behörden prüften, sei Singapur genauso streng und sorgfältig wie die EU, sagt Vainikka. „Singapur spart sich aber den ersten und dritten Schritt, die beide nicht direkt mit der Sicherheitsprüfung des Produkts zu tun haben.“

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Laut der europäischen Novel-Food-Verordnung müssen Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 nicht in signifikantem Maß in der EU konsumiert wurden, eine Prüfung durchlaufen. Das führt dazu, dass etwa das US-Unternehmen Eat Just für sein veganes Ei den Behördenweg abklappern musste, weil das Produkt Mungbohnen enthält. Dass die Hülsenfrüchte in Asien seit langem massenhaft konsumiert werden, ist für den Gesetzgeber kein Argument.

Zuständig für die Prüfung neuer Lebensmittel ist die European Food Safety Authority, kurz EFSA. Spricht man mit Start-ups und Branchenexperten, dann sind die Prozesse in der Behörde langwierig und umständlich. Die EFSA fordere zahlreiche Daten und Gutachten, sagt ein Branchenkenner, bearbeite die Antworten aber nicht nacheinander, sondern erst, wenn der Antragsteller alle Informationen komplett in einem Paket abgeliefert habe. Dadurch gingen viele Monate Zeit verloren.

Eine neue Regulierung namens (EU) 2019/1381, die im Jahr 2021 in Kraft getreten ist und angeblich mehr Transparenz schaffen soll, hat den Prozess offenbar noch einmal verlangsamt. „Sie hat viel zusätzliche Papierarbeit in den Prozess gebracht“, sagt Biosafe-Expertin Halimaa. Ein bürokratischer Marathon, der manche Gründer schon von vornherein von einem Antrag abhält.

Oft fehlen den jungen Unternehmen auch Ansprechpartner bei der EFSA, die ihnen erläutern können, was die Behörde genau verlange. „Es gibt Fälle, da haben Unternehmen monatelang keinen Fallmanager bekommen und es fehlt auch an inhaltlichem-wissenschaftlichen Feedback“ sagt Handschuh.

Singapur wirbt um europäische Start-ups

„Die Kommunikation zwischen dem Antragsteller und den Behörden sollte definitiv verbessert werden“, sagt Halimaa. „Die EFSA gibt vor der Anwendung Ratschläge zu allgemeinen Fragen, aber produktspezifische Mitteilungen fehlen völlig.“ Das sei vor allem dann ein großes Problem, wenn es sich um ein wirklich innovatives Produkt handele, für das die allgemeinen Leitlinien schlecht geeignet seien.

Dies sei ein wesentlicher Unterschied im Zulassungssystem für neuartige Lebensmittel zwischen der EU und anderen Ländern, in denen frühzeitige Kontakte gefördert würden. Das beobachten auch andere Branchenkenner – Regierungsvertreter aus Singapur reisten eigens nach Europa, um Start-ups anzusprechen, und zahlten sogar Gebühren für Sicherheitsstudien. Daran könnte sich die EU ein Vorbild nehmen. „Ein offener Dialog mit der Behörde wäre von größter Bedeutung für die Vorhersehbarkeit des Genehmigungsverfahrens“, sagt Halimaa, „und für die Verringerung unnötiger Tests und Kosten.“

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Zumal Letztere beträchtlich sein können. Eine Studie des Londoner Institute of Economic Affairs, die sich auf einen Berater für Regulierungsfragen beruft, beziffert die Ausgaben für den Zulassungsprozess auf mindestens 250.000 bis 350.000 Euro. Für kleine Start-ups sind das hohe Summen. Die britische Studie rät dazu, den Brexit zu nutzen, um die geerbten EU-Prozesse zur Nahrungsmittelzulassung in Großbritannien massiv zu verändern – denn die seien innovationsfeindlich.

Europäische Gentechnik-Skepsis

Selbst wenn Unternehmen die EFSA-Prüfung gemeistert haben, ist es damit nicht getan. Denn dann müssen noch die 27 EU-Mitgliedstaaten abstimmen, ob das Produkt zugelassen werden darf. Dazu ist ein 55-prozentiges Mehrheitsvotum nötig, zusätzlich müssen die Stimmen 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Sind zwei große Länder wie Deutschland oder Frankreich dagegen, war es das mit der Marktzulassung.

Es herrsche bei den Entscheidern eine große Skepsis und teilweise auch Unkenntnis über gentechnisch veränderte Organismen, wenn sie nur als Produktionsmittel eingesetzt werden, heißt es aus der Start-up-Szene. „Bei der Präzisionsfermentation verwenden wir einen genetisch veränderten Mikroorganismus zur Produktion von Lebensmitteln. Diese Technologie wird schon jahrzehntelang zur Herstellung von Insulin und anderen Medikamenten eingesetzt“, sagt Onego-Bio-Managerin Handschuh. „Aber im Endprodukt ist gar kein genetisch verändertes Material enthalten. Wir müssen auf das Endprodukt schauen.“

Entwickler von kultiviertem Fleisch stehen vor besonders hohen Hürden – ihre Lebensmittel dürften häufig als genetisch verändert eingestuft und noch einmal vor gesonderte Zulassungshürden gestellt werden. Und obwohl Europa massenhaft genetisch veränderte Lebensmittel importiert, wird der Anbau in der EU bisher kaum zugelassen. Vermutlich können die Gründer nächste Woche ihre Sorgen in Brüssel kundtun: Die EFSA hat zu einem Kolloquium eingeladen, um über die innovativen Technologien zu sprechen. Vielleicht wird dann allen Beteiligten klarer, an welchen Stellen die Prozesse in Europa schneller werden können.

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