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Edeka, weithin als prominentes Beispiel in fast jeder Auflistung nachhaltiger Unternehmen aufgeführt und für seine Kampagnen von allen Seiten gelobt, erhielt soeben von Greenpeace die „Goldene Kotzwurst“ verliehen. Quelle: dpa

Marken stecken in der Glaubwürdigkeits-Zwickmühle

Das Kaufverhalten der Menschen revolutioniert sich und stellt Marken vor neue Herausforderungen. Der Ruf nach Nachhaltigkeit ist eine Überlebensstrategie – an der viele Unternehmen jedoch kläglich scheitern.

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Eine Studie des Marktforschungsinstituts Nielsen IQ zum Einkaufsverhalten fördert Überraschendes zutage. Es ist weniger, dass sich während der Corona-Pandemie das Verhalten der Verbraucher veränderte, als dass sich sowohl die Einkaufs- als auch die Konsumgewohnheiten dauerhaft revolutionieren.

Der Trend geht nach Aussage der Forscher dahin, seltener einzukaufen und möglichst alles auf einen Schlag zu erledigen. Spontane Einkaufstrips würden immer seltener. „Die Menschen haben das Bedürfnis, ihre Einkäufe zu reduzieren, das galt im Lockdown und es gilt noch immer“, beobachtet Nielsen-Experte Thomas Montiel Castro. Dabei sei die Ansteckungsangst nur ein Faktor – und nicht einmal der bedeutendste. Gerade junge Menschen wollten nicht mehr so viel Zeit mit dem Einkaufen verbringen. „Sie haben in Corona gelernt, dass es spannendere Sachen gibt, mit denen sie ihre Freizeit verbringen können.“

Der Trend geht zum großen Vorratseinkauf oder zum „Big Trolley“ – dem großen Einkaufswagen. Gewinner dabei sind klassische Supermärkte wie Rewe oder Edeka aufgrund ihres großen Sortiments. Nach einer Untersuchung des Marktforschers GfK steigerten die Supermärkte ihre Umsätze im ersten Halbjahr 2021 um 6,3 Prozent, während die Discounter um 1,4 Prozent weniger verkauften.

Das sind zunächst gute Nachrichten für die Markenwelt der Supermärkte. Aber es kommt noch besser: Bei Nielsen ist man davon überzeugt, dass die Trends auch nach dem Ende der Pandemie anhalten werden. „Noch vor zehn Jahren waren vor allem der Preis und die Sonderangebote entscheidend dafür, wo eingekauft wurde. Aber bei der jüngeren Kundengeneration spielt das keine so große Rolle mehr. Für sie ist es wichtiger geworden, nicht mehr so viel Zeit mit dem Einkaufen zu verbringen.“

Gegenwind für Marken

Von derartigen Umwälzungen würden ebenfalls die Marken profitieren, die mit ihren höheren Preisen bislang in einem verlorenen Kampf gegen die Eigenmarken der Discounter standen. Allerdings will nach einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens IRI „rund ein Viertel der Verbraucher auch nach dem Ende der Pandemie mehr Zeit zu Hause mit Freunden und der Familie verbringen und öfter selber kochen. Fast 40 Prozent der Befragten zeigten sich überzeugt, dass sich auch nach dem Ende der Pandemie anders einkaufen werden als vorher.“

Das wiederum klingt nach frischen Lebensmitteln und einer gesunderen Ernährung und würde somit Gegenwind für die Dosen- und abgepackte Ware der Markenanbieter bedeuten. Überhaupt stehen Gesundheit und Nachhaltigkeit ganz weit oben auf der Präferenzliste moderner Verbraucher. Doch ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle ist es um die meisten der Markenartikelunternehmen schlecht bestellt.

Nach Aussagen der Stiftung Kindergesundheit an der Kinderklinik der Universität München und einer Untersuchung der Uni Hamburg machen 92 Prozent der an Kinder gerichteten Werbespots Werbung für ungesunde Lebensmittel. Eine neue Studie von Foodwatch, bei der 283 Kinderprodukte untersucht wurden, ergab, dass 85 Prozent der Frühstücksflocken, Joghurts, Chips oder Fruchtschorlen ungesund sind, weil sie zu viel Zucker, Fett oder Salz enthalten. „Alle Lebensmittel stammen von Konzernen, die eine Selbstverpflichtung zu verantwortungsvollem Kindermarketing unterschrieben haben, darunter Nestlé, Danone und Unilever.“

Das Ergebnis sei „erschreckend“, kritisiert Barbara Bitzer, Sprecherin der Allianz Nichtübertragbare Krankheiten, in der Verbände der Kinder- und Jugendmedizin, Hausärzte und die Deutsche Krebsgesellschaft vertreten sind. „Die Strategie der Bundesregierung ist gescheitert.“ Diese setzt auf Selbstverpflichtungen sowohl bei der Reduktion von Zucker, Fett und Salz in den Rezepturen als auch bei der Werbung. Nach Meinung von Foodwatch bewerben Ferrero, Pepsico, Mars, Unilever und Coca-Cola beim Kindermarketing ausschließlich ungesunde Produkte. Einziger Lichtblick sei Danone: Hier seien „nur noch“ 60 Prozent der Kinderlebensmittel unausgewogen.

Das kommt einer roten Karte für die betroffenen Unternehmen und ihre Marken gleich. Sie laufen Gefahr, von gesetzlichen Werbeverboten in die Schranken verwiesen zu werden.

Auch in den Feldern Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung schneiden die meisten nicht gut ab. Drei von vier Verbraucher fordern, dass Unternehmen in ihrem Wirken Umwelt und Klima schützen sollten. Aber 75 Prozent der in Deutschland untersuchten Branchen entsprechen nicht den Kundenerwartungen. Das ist eines der Ergebnisse der von der Beratungsgesellschaft FleishmanHillard in fünf Märkten und zu 300 Unternehmen durchgeführten Studie „Authenticity Gap 2021“.

Auch im Hinblick auf den Mehrwert für die Kunden erfüllen 80 Prozent der in Deutschland untersuchten Branchen die Erwartungen nicht. „Angesichts der zunehmenden Polarisierung der öffentlichen Debatte sollten sich Unternehmen über die Bedeutung ihrer gesellschaftlichen Rolle und Verantwortung als einen wesentlichen Treiber ihres Geschäftserfolges klar werden“, sagt Hanning Kempe, CEO von FleishmanHillard.

Die Erwartungen der Verbraucher richten sich jedoch nicht nur an die Unternehmen. Sie wünschen sich auch von Führungskräften eine authentische Haltung zu gesellschaftlichen Themen: Zwei Drittel sind der Meinung, dass CEOs zu Umweltthemen und politischen Veränderungen aktiv Stellung beziehen sollten.

Goldene Kotzwurst

Die Marken stecken in einer Glaubwürdigkeits-Zwickmühle und somit in einem offenen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Fast alle Branchen und Marken enttäuschen nachweislich die Erwartungen ihrer Kunden. Das könnte sich für viele als Falle erweisen.

Zwar sind die in allen Unternehmensberichten vollmundig formulierten Aussagen und Arbeitsnachweise zur Nachhaltigkeit wortgewaltig, doch bei genauerem Hinsehen sind die Firmen weit davon entfernt, nachhaltig zu operieren. Edeka, weithin als prominentes Beispiel in fast jeder Auflistung nachhaltiger Unternehmen aufgeführt und für seine Kampagnen von allen Seiten gelobt, erhielt soeben von Greenpeace die „Goldene Kotzwurst“ verliehen: für besondere Unverdienste beim Klima- und Tierschutz.

Wie man es richtig macht, zeigt der Preisträger des diesjährigen Marken-Awards in der Kategorie „Beste Nachhaltigkeitsstrategie“: Seidensticker. „Sozial, ökologisch und vor allem konsequent: Die Traditionsmarke Seidensticker verordnet sich eine ganzheitliche Nachhaltigkeitsstrategie.“ Und man möchte ergänzen: glaubwürdig.

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Noch beschäftigen sich alle diese Beispiele mit der Produktion und Distribution von Waren und Marken. Doch Nachhaltigkeit ist größer. Man darf gespannt sein, wann die Branche begreift, dass Klimaschutz – das dominierende Thema der nächsten Jahrzehnte – auch Marketing selbst einschließt: Marketing, Kommunikation, Werbung, Kreation und Media. Die Branche wird schon sehr bald beginnen müssen, nicht nur eine Diskussion darüber zu führen, sondern nachweislich die Emission auch ihrer Werbekampagnen zu verringern. Darauf ist niemand vorbereitet.

Mehr zum Thema: Schiefe Töne, schöne Bilder – wenig Inhalt? Mit ihren Wahlwerbespots wollen sich Parteien und Kandidaten verkaufen. Wie gut das FDP, Union und Grünen gelingt, analysiert Willi Schalk.

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