Werner knallhart
Geböller ist gefährlich und teuer – warum suchen sich die Deutschen nicht einfach eine andere Tradition zum Jahreswechsel? Bleigießen fehlt doch auch niemandem! Quelle: imago images

Es geht nicht weiter, wenn es so weitergeht

Im internationalen Vergleich schmieren wir ab. Zu satt, zu innovationsfeindlich, zu unflexibel. Das zeigt schon das Geböller. Das Gute: Wir können umdenken. Alle. Damit der Aufbruch von uns allen ausgeht. Eine Kolumne.

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Ein Wumms kommt nicht von allein. Selbst, wenn er sich in Euro ausdrücken lässt (1 Doppel-Wumms = 200 Milliarden und so weiter), müssen Wummse gewuppt werden. Und das tun wir alle gemeinsam. Aber werden wir künftig noch die nötige Wumms-Kraft haben? Dafür müssen wir weiter weltweit vorne mitspielen.

Wind und Solar, Elektromobilität, Bildung, Brücken, Straßen, die Bahn (um Himmelswillen, ja, die Bahn!), Anzahl der Patente, Digitalisierung, Weltraumforschung, Raucherquote, Fleischersatz aus dem Zellreaktor, Alkoholkonsum, Hochwasservermeidung in Städten, Ladenschluss, Bürokratie, Migrationspolitik, Kinderbetreuung, menschenfreundliche Verkehrsplanung, Pflege, Müllvermeidung: Mir fällt kaum ein gesellschaftlich relevanter Aspekt ein, bei dem Deutschland noch vorangeht. Noch nicht einmal mehr bei der Mülltrennung und der Energiewende.

Mittlerweile hat sich doch tief in unser Bewusstsein gefressen: Deutschland wartet erstmal ab.Tfft Die anderen probieren es aus, trauen sich, haben den Mut zu scheitern. Wir übernehmen dann zehn Jahre später das Kopenhagener Modell hier, das kanadische Modell da, bewundern die in Paris, beneiden die Esten, schämen uns gegenüber den US-Amerikanern.

Natürlich liegt Deutschland noch nicht am Boden. Und von anderen lernen, ist clever. Wir selber sind auch manchmal Vorbild. Aber wenn wir doch nur mehr Spaß am Aufbruch hätten, statt bei jeder Veränderung die Gefahr zu wittern, wären wir schneller und weiter.

Ich erinnere mich, als ich Anfang der 90er-Jahre einem Klassenkameraden erzählt habe, dass ich meinem Vater zum Geburtstag einen Anrufbeantworter schenken wollte. Seine Antwort sinngemäß: „Wozu das denn? Wenn man nicht zuhause ist, ist man nicht zuhause.“

Deutsche haben Angst vor Neuem

Ich habe den Eindruck, bei vielen von uns herrscht diese Grundhaltung noch immer. Heißt es: Wir sollten mehr Geld in die Weltraumforschung investieren, lautet die reflexhafte Gegenwehr: „Sollten wir nicht erst einmal die Probleme auf der Erde lösen?“, ohne zu erfragen, was für ein Potenzial für Fortschritt und Wohlstand weit weg vom Erdboden auf uns wartet, etwa bei der Energiegewinnung hoch oben.

Heißt es: Wir sollten unsere Städte fußgängerfreundlicher planen, gehen sofort die Alarmsignale an. „Wo sollen wir dann noch parken?“ Als wenn unsere Gesellschaft durchzogen ist von Fronten und alle ihre Pfründe verteidigen müssten.

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Dass Fracking bei uns ganz anders laufen würde als anfangs in den USA (mit den brennenden Wasserhähnen), dringt kaum durch. Viele Verantwortliche sprechen lieber von „heißen Eisen“ und lassen sie fallen, als die Gesellschaft aufzuklären und mitzureißen.

Wir Deutschen wollten vom Hintergarten aus den unverbauten Blick von der Hollywoodschaukel auf den Horizont. Das Ergebnis unser Abneigung zu Windkraftanlagen serviert uns heute Russland.

Unser Nein zu Neuem treibt uns im Vergleich in die Rückständigkeit. Wie aber kriegen wir diese Innovationsangst aus uns raus? Drei Wege.

1. Durch mitreißende Visionen in der politischen Führung

Wie soll Deutschlands Aufbruch funktionieren mit Leuten, die sagen, das Tempolimit auf deutschen Autobahnen lasse sich nicht umsetzen, denn es gäbe dafür nicht genügend Schilder. Vom Tempolimit kann man halten, was man will, aber wenn ein solch argumentativer Stuss von unserer politischen Elite kommt, ja, also, was soll aus diesem Land bloß werden? Wenn ein Wumms sich nur in Geld ausdrückt, nicht in Geistesblitzen?

Was macht uns noch aus? Effizienz? Dagegen spricht die groteske Wucherung der Bürokratie. Pünktlichkeit? Dagegen sprechen die Deutsche Bahn und die Staus auf unseren Straßen. Unser Erfindergeist? Vielleicht. Aber gefühlt zünden die den Alltag prägenden Zukunftsknaller immer irgendwo anders. Von Amazon über Netflix und TikTok bis Starlink. Wenn es in Deutschland dann einmal sensationell gelingt, wie bei der Entwicklung des besten Corona-Impfstoffs durch Biontech, verbaselt die Bundesregierung direkt wieder die Impfstoffbestellung. Und das große Glücksgefühl ist dahin.

von Sonja Álvarez, Annina Reimann, Volker ter Haseborg, Christian Schlesiger

Wofür stehen wir? Worauf dürfen wir uns freuen? Warum soll es sich lohnen, gemeinsam anzupacken? Es gibt kein großes, schönes, buntes Ziel, auf das wir zulaufen, in einer Zeit, in der die westliche Idee von Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit auf dem Spiel steht. Und sogar das ganze Erdklima. Zukunftsvisionen zu entwerfen, das ist gesellschaftliche Aufgabe. Und in einer repräsentativen Demokratie ist das nun einmal auch Aufgabe der Politik. Ich sehe da zu viel Kleinklein und zu wenig Großes. Ja, wir brauchen Politik mit zuverlässiger Beamtennerdigkeit. Aber auch mit mehr Begeisterung, die überspringt. Das können Politikerinnen und Politiker lernen.

2. Durch konstruktiven Journalismus

Es ist Aufgabe von uns Journalisten, Institutionen, Verwaltung und Regierungen zu überprüfen und Missstände aufzuzeigen. Wer soll es sonst so effektiv tun? Dadurch entsteht bei vielen Medien-Konsumenten allerdings der Eindruck, alles laufe schlecht.

Würden die Medien hier und da noch mehr lösungsorientierter erklären, wohin die Reise gehen könnte, statt beim Aufzeigen von Missständen zu verharren, fiele es uns allen leichter, den Weg aus dem Schlamassel mitzugehen. Wenn denn überhaupt jemand vorgeht.

Ein gutes Beispiel sind Berichte über die Zustände in unseren Schweineställen und Schlachtbetrieben. Was tun? Eine Gesellschaft, die weiß, wie unterschiedliche Lösungsoptionen aussehen, entwickelt selber Standpunkte und erkennt den Bedarf nach Veränderungen, anstatt das Gefühl zu bekommen, völlig ohne Not mit Veränderungen gegängelt zu werden.

3. Indem wir alle uns am Neuen begeistern

Ich finde: Die deutsche Angst zu überwinden, ist eine Aufgabe für uns alle. Dazu gehört im ersten Schritt, dass wir lernen, uns dabei zu ertappen, wenn wir mal wieder intuitiv abwinken, sobald sich eine Veränderung anbahnt. Sich etwa ganz bewusst von Traditionen zu verabschieden, statt sie unreflektiert wiederzukäuen, kann auch Spaß machen. Wir alle wissen, dass das Geböller an Silvester gefährlich und teuer ist, Müll und Feinstaub verursacht und Tiere verschreckt. Warum als erwachsene Menschen dann dran festhalten? Weil es immer so war? Wirklich? Fehlt hier jemandem ernsthaft Bleigießen? Und warum reden wir uns ein, dass es für Kinder kein schönes Silvester wird, wenn keine Knaller fliegen? Das ist denen doch egal, sobald stattdessen etwas anderes Schönes gemacht wird, etwa das ab sofort traditionelle Essen von zwölf Trauben jeweils mit einem Wunsch dazu, wie es die Spanier machen. Das geht! Der Kolumnist Ihres Vertrauens hat es zum Jahresstart probiert.

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Und wenn das geht, dann geht noch viel mehr. Wir können einfach so weitermachen wie immer. Aber wenn wir weiterhin vorne mitspielen wollen, müssen wir uns einmal selber vor dem Spiegel links und rechts ohrfeigen und sagen: Ich mache mit. Weil es nicht weitergeht, wenn alles so weitergeht.

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