Nach zähen Verhandlungen war es am Dienstagabend gegen 19 Uhr Uhr endlich soweit: Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) haben sich auf Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen als nächste EU-Kommissionspräsidentin verständigt und sie offiziell nominiert. Nun muss sie das EU-Parlament von der Leyen bestätigen. Allerdings gibt es heftige Kritik aus den Fraktionen des Parlaments zu dieser Personalentscheidung.
Im EU-Postenpoker hatte Ratspräsident Donald Tusk von der Leyen als Kommissionspräsidentin vorschlagen. Laut Frankfurter Allgemeiner Zeitung wurde sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ins Spiel gebracht. Die CDU-Politikerin ist nach Informationen der Nachrichtenagenturen Teil eines neuen Personaltableaus, das Tusk in Vorgesprächen getestet hatte. Dieser Vorschlag habe offenbar die Unterstützung von Frankreich und Spanien sowie der vier Visegradstaaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die den Niederländer Frans Timmermans unbedingt als Kommissionspräsidenten verhindern wollten. Ihnen gefällt von der Leyens Haltung zu einer europäischen Verteidigungsunion, die sie bereits in einem Gastbeitrag für die WirtschaftsWoche dargelegt hatte. Ob es von einer ausreichenden Mehrheit der 28 Staaten mitgetragen wird, war aber zunächst offen.
Die Ergebnisse der Personalverhandlungen sehen außerdem vor, das IWF-Chefin Christine Lagarde EZB-Präsidentin werden soll. Somit würden zwei Frauen auf Jean-Claude Juncker und Mario Draghi folgen. Teil des Pakets sind offenbar auch der belgische Ministerpräsident Charles Michel (Liberale) als EU-Ratspräsident und der spanische Außenminister Josep Borrell als EU-Außenbeauftragter. Ferner soll sich demnach der frühere bulgarische Ministerpräsident Sergei Stanischew mit EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) die fünfjährige Präsidentschaft im europäischen Parlament teilen. Der sozialdemokratische Spitzenkandidat Frans Timmermans und EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (Liberale) könnten erste Vize-Kommissionspräsidenten werden. Am Nachmittag wurden die Beratungen in Brüssel unterbrochen, damit die Regierungschefs mit den Parteiengruppen im neuen europäischen Parlament telefonieren konnten, das am Dienstag erstmals in Straßburg zusammentrat.
Schon vor der offiziellen Einigung kamen sehr kritische Stimmen aus dem europäischen Parlament. Den Abgeordneten zufolge würde der EU-Rat damit das Spitzenkandidaten-Prinzip aufgeben, wonach nur einer der Kandidaten der Europawahlen Chef der Brüsseler Behörde werden darf. Hält der Widerstand an, droht eine institutionelle Krise. Denn der Rat schlägt den Kandidaten zwar vor, das Parlament muss ihn aber wählen. Dafür gilt eine Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberalen und Grünen als notwendig.
Das neue Führungspersonal der EU
Für Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird es auch eine Heimkehr, wenn sie den Chefposten in der EU übernimmt: Die heute 60-Jährige kam in Brüssel zur Welt und spricht fließend Englisch wie Französisch. Als Tochter des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht war von der Leyens Leben schon früh von der Politik bestimmt. Ihr Medizinstudium schloss sie 1987 ab, sie bekam sieben Kinder und lebte einige Jahre in Kalifornien, wo ihr Mann Heiko an der Stanford-Universität unterrichtete. In die Politik kam von der Leyen, die als extrem diszipliniert und harte Arbeiterin gilt, erst spät, mit 42 Jahren. Sie wurde 2005 zunächst Familien-, 2009 dann Arbeitsministerin. Ihr jetziges Amt in Berlin übernahm sie 2013. Ihre Amtszeit in der Kommission wären fünf Jahre.
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, soll die erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. Die gebürtige Pariserin, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammt und in Le Havre aufwuchs, ist es als frühere französische Finanzministerin und Leiterin einer der einflussreichsten internationalen Institutionen gewöhnt, sich Gehör zu verschaffen. Die 63-jährige gilt als durchsetzungsfähig und mit einem kühlen Kopf ausgestattet. Ihre Amtszeit sind acht Jahre.
Neuer Präsident des Europäischen Parlaments wird der Italiener David-Maria Sassoli. Der Sozialdemokrat wurde am Mittwoch in Straßburg mit der nötigen Mehrheit der Abgeordneten für die nächsten zweieinhalb Jahre gewählt. Danach soll ein Christdemokrat das Amt bekommen, möglicherweise der Deutsche Manfred Weber (CSU). Das wird aber erst zum Ende von Sassolis Amtszeit entschieden. Der 63-jährige Journalist aus Florenz sitzt seit zehn Jahren in der europäischen Volksvertretung in Straßburg. Sassoli erinnerte in seiner Antrittsrede an die Grundwerte der EU. Die Europäische Union befinde sich in einem epochalen Wandel, sagte er. Die Grundwerte müssten verteidigt werden - „innerhalb und außerhalb der EU“.
Der amtierende belgische Ministerpräsident Charles Michel der liberalen Partei Mouvement Reformateur (MR) trat im Dezember mit seiner Minderheitsregierung wegen eines drohenden Misstrauensvotums zurück. Seit der Wahl im Mai gelang es dem 43-jährigen nicht, eine neue Regierungskoalition zu bilden. Seitdem ist der studierte Jurist aus dem französischsprachigen Teil Belgiens auf Jobsuche. In seiner Karriere war Michel meist der Jüngste: Er stieg im Alter von 18 Jahren in die Lokalpolitik ein, errang mit 23 einen Sitz im nationalen Parlament und wurde mit 38 Ministerpräsident. Politik liegt in der Familie: Sein Vater Louis war EU-Kommissar für Entwicklung. Die Amtszeit von Charles Michel liegt bei fünf Jahren.
Josep Borrell ist ein spanischer Politiker und Parteifreund des sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez. Der 72-jährige war von 2004 bis 2007 Präsident des Europäischen Parlaments und bis 2009 einfacher Abgeordneter. Bei der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit Kataloniens war er einer der entschiedensten Verteidiger der Einheit Spaniens. Er studierte an der Universität Madrid Luftfahrttechnik und promovierte später in Wirtschaftswissenschaften. In seiner neuen Rolle wird er auch Vizepräsident der Kommission werden. Seine Amtszeit sind fünf Jahre.
„Diese Verfahren ist grotesk“
Vor allem sozialdemokratische Parlamentarier in Berlin und Straßburg äußerten sich sehr kritisch, weil Timmermans in den Beratungen fallengelassen wurde. „Ich erwarte, dass bei den laufenden Verhandlungen der Regierungschefs ein Ergebnis herauskommt, das das Spitzenkandidaten-Prinzip respektiert“, sagt SPD-Fraktionsvize Achim Post, der auch Generalsekretär der europäischen Sozialisten ist. Die stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten im europäischen Parlament, Tanja Fajon, twitterte: „Sehr klares Nein, Mehrheit nicht bereit, den derzeitigen Deal über EU-Top-Jobs zu unterstützen.“
Widerstand wurde auch bei Christdemokraten und Grünen deutlich. Etliche EVP-Abgeordnete äußerten sich kritisch, ohne zitiert werden zu wollen. Die stellvertretende Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke sagte der Nachrichtenagentur Reuters: „Dieses Verfahren ist grotesk.“ Anstatt die europäischen Wähler und Wählerinnen ernst zu nehmen, verhandelten die Regierungschefs „in Hinterzimmern“ und beschädigten die europäische Demokratie. „Das Parlament wird dieses Paket auf keinen Fall blind absegnen“, kündigte sie an.
„Ich bin eine glückliche Verteidigungsministerin“
Das neue EU-Parlament wird am Mittwoch wie geplant seinen neuen Präsidenten wählen. Die Abstimmung werde ungeachtet der Gipfel-Entscheidung über den Kommissionspräsidenten abgehalten, sagte ein Parlamentssprecher am Morgen in Straßburg. Das Parlament tritt damit Bestrebungen der Mitgliedsländer entgehen, die Parlamentsführung als Teil des zu verteilenden Job-Pakets zu sehen. Die Bewerbungen für die Wahl mussten nach dem letzten Stand bis Dienstagabend 22.00 Uhr (MESZ) eintreffen. Den Hut in den Ring geworfen hat bereits Ska Keller, Co-Vorsitzende der Grünen im Europaparlament.
Bei Dauerverhandlungen am Sonntag und Montag über die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und anderen Top-Jobs war zunächst lange nichts herausgekommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich zusammen mit Spanien, Frankreich und den Niederlanden für ein Personalpaket mit Timmermans an der Kommissionsspitze und dem konservativen Spitzenkandidaten Weber (CSU) als Präsident des Europaparlaments ausgesprochen. Dagegen gab es jedoch breiten Widerstand - vor allem aus Ungarn und den anderen Visegrad-Staaten. Am Dienstag verzögerte sich der Gipfelstart somit um etwa fünf Stunden wegen zahlreicher Vorgespräche bei Ratspräsident Tusk. Die 28 Staats- und Regierungschefs standen bei ihrem neuen Anlauf unter Zeitdruck, weil sich am Dienstag das neue Europaparlament konstituierte und es am Mittwoch seinen neuen Präsidenten wählen will.