Lehman-Brothers-Insolvenz Der Moment, in dem der mächtige Dominostein kippte

Die Pleite von Lehman Brothers löste weltweit Schocks aus. Quelle: AP

Einer der größten Finanzmarktschocks der Wirtschaftsgeschichte jährt sich zum zehnten Mal: Die Lehman-Pleite hat einiges ins Wanken gebracht, auch politisch. WirtschaftsWoche-Redakteure berichten, wie sie den Umbruch erlebten.

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Am 15. September 2008 musste die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz beantragen. Hier schildern Redakteure und Korrespondentinnen der WirtschaftsWoche, wie sie die heißeste Phase der Finanzkrise erlebten – und was sie daraus lernten.

Hauke Reimer - Stellvertretender Chefredakteur

Es ist der vorerst letzte große Auftritt eines „Master of the Universe“, eines Börsenhelden jener Art, wie sie US-Autor Tom Wolfe in seinem „Fegefeuer der Eitelkeiten“ genial beschrieben hat. Klar, es ist Main-, nicht Manhattan, aber auch hier gibt es hell beleuchtete Straßenschluchten. Der einstige Chefhändler einer Frankfurter Bank, der jetzt seinen eigenen Hedgefonds steuert, hat mich mit seinem neuen Wagen am Büro abgeholt. Ein silberner Aston Martin DBS, so wie ihn Daniel Craig im Bond-Film „Casino Royale“ gefahren hat. Auf der Mainzer Landstraße, die Bankentürme im Blick, beschleunigte er. Nicht auf 100 – der DBS schafft das in vier Sekunden – aber doch so, dass wir kampfjetmäßig in die Sitze gedrückt werden. Das Auto sei echt nicht teuer, sagt er, eher günstig, „die Leasingrate ist kaum höher als beim Porsche 911“.

Vor der Freitreppe einer Sandstein-Villa aus dem 19. Jahrhundert bremst er, wirft den Schlüssel einem Türsteher zu, der ihn einparken soll. Die „Kameha Suite“ liegt praktisch im Schatten der Deutsche-Bank-Türme, bis vor kurzem hat hier noch der Allianz-Vorstand residierte. Nebenan wird gebaut. In den Opernturm, damals der fünfthöchste Bürobau Deutschlands, soll demnächst die UBS einziehen. Ich denke an eine Grafik, die wir schon mehrfach gedruckt haben: Wolkenkratzer als Crash-Indikatoren. Rekordhohe Gebäude werden in Phasen wirtschaftlichen Übermuts geplant. Sind sie fertig, kracht es.

Oben in der Bar viele Banker, Analysten, Händler, Berater. Die meisten haben ihr Krawatten gelockert, die Hemdsärmel hochgekrempelt, wir trinken Beck´s aus grünen 0,3-Liter Flaschen. Locker-entspannt ist hier sonst gar nichts. Auf den Bildschirmen läuft CNBC und ntv ohne Ton, viele rote Zahlen in den Laufbändern am unteren Bildschirmrand. Ernste Gesichter, einige telefonieren, das iPhone 3 ist gerade neu auf dem Markt, die hier haben es schon, klar.

Lehman Brothers, eine der großen unter den von allen hier bewunderten US-Investmentbanken, ist pleite, der US-Finanzkapitalismus, der auch diese Frauen und Männer in Frankfurt so entscheidend geprägt hat, scheint am Ende, bis die Realwirtschaft mit nach unten gerissen wird, nur eine Frage der Zeit. „Finanzkrise: Jetzt geht´s erst richtig los“, hatte ich neun Monate zuvor geschrieben, und: „Die durch den strauchelnden US-Immobilienmarkt ausgelöste Finanzkrise ist noch längst nicht gegessen, im Gegenteil. Sie droht weitere Bereiche des Finanzsystems zu erfassen. Ein Dominostein nach dem anderen kann kippen, von platzenden US-Hypotheken gehen Bedrohungen in alle Richtungen aus.“

Jetzt war ein mächtiger Dominostein gekippt, und ein noch mächtigerer, der Versicherungsriese AIG, wackelte.

Die Banker hier in der Kameha Bar sind doppelt gekniffen: Ihre Institute und ihre Kunden verlieren Milliarden, so dass sie sich ihren Bonus abschminken können, und privat haben auch die meisten investiert, hier verlieren sie ebenfalls. Und die Bilder der gefeuerten Lehman-Banker, die ihre Kartons aus der Bank tragen, machen auch nicht fröhlich. Einen Jahrhundertcrash, haben viele hier schon mal mitgemacht, den vom März 2000. Dass Aktien stark fallen können, wussten sie, dann kauften sie eben Anleihen oder hielten Cash.

Aber dieses mal ist es anders. Aktien, Anleihen, Rohstoffe, selbst Gold: Alles fällt, alles wird zu Geld gemacht. Und selbst Kasse halten scheint nicht mehr sicher. Wo soll das Geld denn hin – das Risiko, es bei einer Bank zu parken, die noch unentdeckte Bomben in den Bilanzen hatte und pleite gehen würde, ist nur allzu real.

„Wie sicher ist der Einlagensicherungsfonds?“ habe ich in dieser Woche in der WirtschaftsWoche gefragt. Die Antwort war einfach: „Den Ausfall einer großen Bank würde der Fonds niemals überstehen. Dann müsste – wie in Großbritannien bei Northern Rock geschehen – der Staat einspringen, will heißen: der Steuerzahler, also wir alle.“

Zwei Wochen später muss der Staat die Hypo Real Estate retten. Ansonsten wäre der Geschäftsverkehr der Banken untereinander zusammengebrochen, sagt der damalige Bundesbankpräsident und heutige UBS-Verwaltungsratschef Axel Weber. Dreieinhalb Monate später ist dann die Commerzbank an der Reihe.

Der Dax, vor Lehman noch satt über 6000 Punkten, rutscht im März 2009 unter 4000. Wenig später geht auch der Aston Martin zurück zum Händler. Jetzt, zehn Jahre später, hat sich der Ex-Banker einen 911er bestellt. Und Aston Martin soll in London an die Börse.

Zehn Jahre Finanzkrise

Mark Fehr - Korrespondent in Frankfurt

München, Käfer-Schänke, Oktober 2008: Mietwagen-König Erich Sixt und Sohn Konstantin stellen bei Häppchen und Sekt das neueste Pflänzchen der Internet-Tochter des Familienunternehmens vor. Stockflock hieß es, und sollte eine Art Facebook für Privatanleger werden. Das fröhliche Start-up-Event jedoch steht ganz im Schatten der Finanzkrise. Zwei Wochen zuvor musste Kanzlerin Angela Merkel beteuern, dass die Spareinlagen der Bürger sicher seien und Rettungsmilliarden für schwankende Banken bereitstellen.

Äußerlich unbeeindruckt nutzt Sixt Senior die Gunst der Stunde, sein Unternehmen als Krisengewinner in Szene zu setzen, weil jetzt alle Geschäftskunden sparen müssten und nur noch die ach so billigen Sixt-Autos leihen. Zudem teilt der damals noch zarte 64 Jahre alte Sixt-Chef gegen die Banken aus: „Jetzt beginnt der Eiertanz, wer sich als erster aus der Deckung wagt und Hilfe in Anspruch nimmt“, prophezeite er – und behielt recht. Auch Geldhäuser, die sich wie die Deutsche Bank rühmten, keine direkten Hilfen in Anspruch nehmen zu müssen, profitierten von der Rettung der schwächsten Mitglieder ihrer Branche, wie der immer noch teilverstaatlichten Commerzbank oder der aus Steuerzahlerkosten abgewickelte Hypo Real Estate.

Mittelständler haben keine Ahnung von Politik und Finanzwelt? Sixts Weitblick hat gezeigt, dass das ein Klischee ist. Und wie zur historischen Bestätigung der Sixt-These stellt der ehemalige Deutsche-Bank-Co-Chef Jürgen Fitschen zehn Jahre später fest, dass sein Institut lieber Staatshilfe hätte nehmen sollen. „Es wären Vorteile damit verbunden gewesen.

Sixts These zur Bankenrettung ist bei den anwesenden Medien jedenfalls hängen geblieben, ganz anders übrigens als das, was an diesem Tag ein gar nicht so unprominenter Vertreter der Politik und Bankenbranche zu sagen hatte, der auch zum Stockflock-Start ins Käfer geladen war. Es handelte sich um einen gewissen Georg Fahrenschon, damals noch recht unauffälliger Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium, später Finanzminister im Freistaat und von 2011 bis 2017 sogar Präsident des mächtigen Sparkassenverbands. Die Welt ist klein.

Dass aus Stockflock nichts wurde, ist da nur eine historische Fußnote.

„In meinem Depot bereitet mir der Finanzkrisen-Höhepunkt noch heute Freude“

Niklas Hoyer - Stellvertretender Ressortleiter Geld

3,5 Prozent für Tagesgeld. 5,4 Prozent für Zwölfmonats-Festgeld. Vor Kurzem fand ich beim Ausmisten von Aktenordnern diese Konditionen in alten Bankunterlagen. Es waren nicht irgendwelche Lockvogel-Angebote. Sie stammten von seriösen Banken – etwa der Mercedes-Benz Bank und der ING DiBa – nur eben aus der Zeit Ende 2008/Anfang 2009. Abseits der Aktienmärkte waren es vor allem die Zinsmärkte, die auf dem Finanzkrisen-Höhepunkt die desolate Lage und die großen Ängste der Anleger abbildeten. Längst sind die Angebote ausgelaufen, die Zinsen ausgezahlt. Zu festem Zins habe ich heute kaum noch Geld investiert. Das lohnt sich schlicht nicht mehr. Bei der DiBa bekommen Bestandskunden aktuell noch 0,01 Prozent auf Tagesgeld.

In meinem Aktiendepot bereitet mir der Finanzkrisen-Höhepunkt noch heute Freude. Nicht, weil ich am damaligen Absturz verdient hätte. Im Gegenteil: Ich schlug damals einige Fonds und Aktien mit sattem Verlust los. Kurz darauf kaufte ich sie aber zurück und investierte noch zusätzlich. Das hatte ich weniger meinem Mut als antizyklischem Investor zu verdanken, als der 2009 anstehenden Einführung der Abgeltungsteuer. Alle noch 2008 gekauften Wertpapiere brachten die Aussicht auf dauerhaft steuerfreie Kursgewinne beim späteren Verkauf. Zwar ist diese Steuerfreiheit bei Fonds mittlerweile eingeschränkt worden, bei Aktien gilt sie – Stand jetzt – aber weiter unbegrenzt. 

Im Rückblick war der Einstiegszeitpunkt optimal: Die Kurse erreichten kurz darauf, im März 2009, ihr Tief. 

Wenn die Bundesregierung ihre Bürger also ein einziges Mal zu einem geschickten Finanzverhalten angeregt hat, dann mit der Einführung der Abgeltungsteuer. Allerdings waren die meisten damals wohl zu abgeschreckt vom Geschehen an den Finanzmärkten, als dass sie im größeren Stil Aktien gekauft hätten.

Auch mir fehlten dafür zu dem Zeitpunkt Mut und finanzielle Mittel. Dennoch freut mich bei den gekauften Werten die Aussicht auf die steuerfreien Gewinne, eines Tages. Dass ein von mir damals gekaufte Lateinamerika-Aktienfonds bis heute nicht wieder meinen Einstiegskurs von 2008 erreicht hat, kann ich angesichts anderer Werte mit dickem Plus verschmerzen. Der Bestandsschutz für die vor 2009 gekauften Papiere hat eben eine erzieherische Wirkung.

Er setzt einen großen Anreiz, die Werte wirklich langfristig zu halten.

10 Jahre nach der Lehman-Pleite

Christof Schürmann - Stellvertretender Ressortleiter Geld

Noch im Spätfrühjahr 2007 hatte die Fondsgesellschaft Union Investment angepriesen, wie Anleger vier Prozent Rendite mit kurzlaufenden US-Anleihen herausholen können. Ich erinnere mich noch gut daran, wie die genossenschaftliche Gesellschaft Fragen nach der Stabilität dieses Wunderfonds beiseite wischte.

Zur Hälfte hatte der in vermeintlich besicherte US-Papiere, darunter auch die gefürchteten US-Subprime-Hypotheken, investierte. Auf einer Veranstaltung in Frankfurt verwiesen die Banker auf die hohe Bonität der Papiere. Dass tolle Bonitätssiegel der Ratingagenturen wenig wert waren, zeigte sich sehr schnell. Keine zwei Monate später machte Union Investment ihren 950 Millionen Euro schweren ABS-Invest auf Jahre dicht.

Das war im Sommer 2007, als die Banken gerade begonnen hatten, sich gegenseitig zu misstrauen.

Die Gefahr für einen Fall Lehman, sie war damals, ein gutes Jahr vor dem richtigen Knall, schon mit den Händen zu greifen. Denn die schnelle Weitergabe von Geld und Kredit war gestoppt, das Vertrauen der Banken untereinander bereits futsch. 2014 beschloss Union schließlich den Fonds zu liquidieren – knapp sieben Jahre nachdem Anleger ihn letztmals am Markt hätten verkaufen können.

„Eine Zeit nah am Abgrund“

Cornelius Welp - Ressortleiter Unternehmen
Mit Lehman Brothers kam ich das erste Mal bei einem Abendessen in Kontakt. Da präsentierten ein paar äußerst selbstbewusste Banker ihre Wachstumspläne. Am Schluss drückten sie jedem Journalisten eine Tasche mit Firmenlogo in die Hand. Schön war die nicht, aufgehoben habe ich sie trotzdem. Vielleicht wird sie mal richtig viel wert.

Mitte September 2008 erklärte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann die Krise bei einer Konferenz für beendet. Um Lehman, so sagte er, müsse man sich keine Sorgen machen. Im Zweifel wisse die US-Regierung, was zu tun sei.

Am Montag danach war Lehman pleite. Was folgte, war erst mal große Ratlosigkeit. Am Morgen stellte sich der neue Chef einer deutschen Bank in der Frankfurter Redaktion vor. Er erzählte uns, dass der Einlagensicherungsfonds nun wohl leer sei. Schon das schien uns unglaublich.

Am Abend in der S-Bahn saß mir ein Banker gegenüber. Völlig aufgelöst erzählte er seinem Gesprächspartner über Handy, wie er und seine Kollegen im Frankfurter Lehman-Büro von der Pleite erfahren hatten. Dass er nun Teil der größten Insolvenz aller Zeiten sei. Vermutlich ahnte auch mein aufgebrachter Mitfahrer nicht mal ansatzweise, was nun folgen sollte: eine Zeit nahe am Abgrund. Damals hatten wir in der Redaktion noch keine Smartphones und waren deshalb nicht immer auf dem ganz neuesten Stand. Ich war schon beruhigt, wenn ich morgens der U-Bahn-Station vor dem Verlagsgebäude entstieg und vor der Filiale der Dresdner Bank keine Schlange vor dem Geldautomaten wartete.

Den Scoop meines Lebens habe ich verpasst. An einem Freitagnachmittag Ende September 2008 telefonierte ich mit einem Frankfurter Anwalt. Ich weiß nicht mehr, worum es eigentlich ging, aber schnell sagte er mir, dass ich mich mit dem falschen Thema befasse. Der Münchner Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate sei in ernsten Schwierigkeiten. Wir sollten mal hinschauen.

Eine Kollegin rief in der Pressestelle an, niemand ging mehr ans Telefon. Wir waren erschöpft von der anstrengenden Woche und vertagten das Ganze auf Montag. Da hatte sich das Thema dann erledigt, am Wochenende fand die dramatischste Rettungsaktion der deutschen Bankengeschichte statt.
Manchmal ärgere ich mich heute noch darüber, dass wir damals nicht hartnäckiger waren. Dann male ich mir aus, wie nach unserem Anruf in München Panik ausbricht, wie die Finanzmärkte zusammengebrochen wären, wie Politik und Finanzwelt überlegen, wie sie uns ruhigstellen können. Und schließlich Peer Steinbrück anruft, um Zurückhaltung bettelt und uns lebenslange Steuerverschonung verspricht. Das wäre schon was gewesen.

Andererseits haben wir so vielleicht das weltweite Finanzsystem vor einem neuen Crash-Schub bewahrt. Das ist doch auch was.

Saskia Littmann - Korrespondentin in Frankfurt

So ein Volkswirtschafts-Studium im Jahr 2008 war eine skurrile Mischung aus heiler Welt und Illusion. In Lüneburg, einem idyllischen Städtchen im Süden Hamburgs, ist der US-Häusermarkt mit seinen haarsträubenden Kreditkonstrukten gedanklich mindestens so weit weg wie Klausuren bei der Semesteranfangsparty. Das Zimmer im Studentenwohnheim kostet gerade mal 186 Euro, die Professoren referieren über funktionierende Märkte im Gleichgewicht, und wenn die persönliche Einnahmen-Ausgaben-Situation dann doch mal ins Ungleichgewicht gerät, wird eben Ende des Monats ein Bier weniger getrunken.

Dass die Märkte vielleicht doch nicht ganz so gleichgewichtig sind, wie ich dachte, erahnte ich, als ich Anfang 2008 ein Praktikum bei der „Financial Times Deutschland“ in Berlin mache. In meinem Ressort Politik und Weltwirtschaft spielen vor allem Konjunkturindikatoren eine große Rolle.

Regelmäßig kommt um mich herum um 14.30 Uhr große Unruhe auf, wenn die Zeitung umgebaut werden muss, weil in den USA mal wieder die Arbeitsmarktzahlen schlechter sind als erwartet oder der Philly-Fed Index in den Keller gerauscht ist.

Welcher Illusion meine gleichgewichtigen Märkte aber tatsächlich sind, das wird mir erst an einem Sonntagabend im Oktober endgültig klar. Es war der Abend, an dem Kanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück zur besten Sendezeit vor die Fernsehkameras traten, um den Bürgern zu versichern, dass ihre Spareinlagen bei Banken und Sparkassen sicher seien.

Erspartes habe ich zwar nicht viel, aber in meinen Vorlesungen dann doch genug gelernt, um die Tragweite des Gesagten zu erkennen. Statt wie geplant den Tatort zu schauen, diskutieren mein Kommilitone und ich, wie ungleichgewichtig das alles sein muss, wenn die Bundeskanzlerin schon zu solchen Mitteln greifen muss.

Meine Bachelorarbeit habe ich am nächsten Tag trotzdem weitergeschrieben. Über Multiplikatoreffekte – und Volkswirtschaften im Gleichgewicht.

„Die Immobilie, eine der besten Geldanlagen meines Lebens“

Heike Schwerdtfeger - Korrespondentin in Frankfurt:

Noch heute denke ich bei jedem Ikea-Besuch an den Anruf eines Informanten im Juli 2008 zurück: Es war irgendwo zwischen Lampen und Gardinen an einem Notausgang, als mein Handy klingelte. An diesem Freitagmorgen wurde mir klar, wie die US-Hypothekenkrise jetzt auch beim deutschen Anleger ankommen sollte.

Ein Geldmarktfonds werde geschlossen, sagte der Informant. Die Anleger kämen nicht mehr an ihr Geld, sie könnten die Fondsanteile nicht mehr verkaufen. Was das denn jetzt für die Kurse der Geldmarktpapiere bedeute, die im Fonds steckten, fragte ich ihn etwas unkonzentriert. Er lachte verlegen und meinte, die genauen Auswirkungen kenne man auch noch nicht, und man wisse auch nicht, wie lange die Schließung dauern werde.
Viele Überraschungen und eine steile Lernkurve bot die Finanzkrise allen in Frankfurt. Was zuvor als eigentlich ungefährlicher Geldmarktfonds verkauft werden durfte, steckte in Wirklichkeit voller gefährlicher Anleihen, in denen US-Hypothekenkredite verbrieft wurden. Weil niemand mehr diese Papiere kaufen wollte, konnten die Geldmarktfonds das Anlegergeld nicht auszahlen, ein Dutzend musste deshalb schließen, zweistellige Kursverluste für Anleger waren keine Seltenheit. Fonds, die lange Performance-Hitlisten angeführt hatten, traf es besonders hart. Denn sie hatten meist neben den verbrieften Hypothekenkrediten auch noch massiv Bankanleihen im Depot.

Künftig noch stärker auf den Inhalt der Fonds und ihr Anlagekonzept zu achten, habe ich mir seither geschworen. Persönlich war Geldanlage damals nicht mein Problem, ich hatte kurz vor der Finanzkrise alle Anlagen aufgelöst und ein Eigenheim gekauft. Die gab es damals auch im Rhein-Main-Gebiet noch vergleichsweise günstig.

Im Nachhinein betrachtet war diese Immobilie eine der besten Geldanlagen meines Lebens. Mein Eigenkapital wäre in der Finanzkrise zusammengeschmolzen, die Angst um den Job und die Zukunft wäre gestiegen. Mit dem Hausverkäufer hatte ich fast Mitleid. Hoffentlich hat er das Geld nicht zu früh in Geldmarkt- oder Aktienfonds gesteckt.

„Krisenangst machte Horten von Ravioli salonfähig“

Anton Riedl - Redakteur Geld:

In den Tagen der akuten Finanzkrise war die Angst unter Anlegern vor einem Systemzusammenbruch von Börsen, Wirtschaft und Gesellschaft so groß, dass das Horten von Ravioli in Dosen salonfähig wurde. Auf der Stuttgarter Anlegermesse Invest im Frühjahr 2009, fast punktgenau mit dem Tiefpunkt im Dax, wurde 2008/09 als zweite Weltwirtschaftskrise nach der von 1929 eingestuft.

Vermögensverwalter Jens Ehrhardt wies in seinem Börsenbrief darauf hin, dass die Krise 2008/09 direkt sogar mehr Anleger betroffen habe als die Weltwirtschaftskrise von 1929, da Aktien als Anlage in den Zwanzigerjahren weniger verbreitet waren als heute. Um für einige Urlaubswochen auf Nummer sicher zu gehen, habe ich persönlich Geld vom laufenden Konto einer Bank in Anleihen und Schuldverschreibungen verschiedener Emittenten geparkt, darunter auch Bundesanleihen, also die Risiken auf mehrere Schultern verteilt.

Die Finanzkrise kam nicht aus heiterem Himmel, das spürten wir in der Redaktion. Der Zusammenbruch der Unternehmensbank IKB Mitte 2007 und der Crash der Aktienmärkte Anfang 2008 nach den Milliardenverlusten von Jerome Kerviel, Händler der Société Générale, waren ernsthafte Vorboten einer großen Krise. In der WirtschaftsWoche haben wir deshalb mehrmals Absicherungsstrategien gegen Kursverluste vorgestellt. Die Derivate, Put-Optionsscheine auf einen fallenden Dax, haben sich dann im Zuge der Finanzkrise vervielfacht. Am stärksten liefen die Anfang September 2008 in WirtschaftsWoche 36 vorgestellten Dax-Puts, die in der Spitze um nahezu 700 Prozent zulegten.

Die Wirkung von Dax-Puts auf dem Papier zu beschreiben, war aber etwas ganz anderes als Puts in den hektischen Tagen der Finanzkrise real zu handeln und vor allem durchzuhalten. Trotz allgemeiner Baisse-Tendenz gab es zwischendurch immer wieder massive Kurserholungen. Am heftigsten war der Kurssprung, als der damals designierte US-Präsident Barack Obama nach der Lehman-Pleite ein Konjunkturpaket von vielen hundert Milliarden Dollar vorstellte. Den Dow Jones katapultierte das innerhalb kürzester Zeit um 1000 Punkte nach oben – und Puts gaben ihre Gewinne komplett ab, wenn sie sich nicht sogar in Luft auflösten. Wenn man das erlebte, hatte man keine Lust mehr auf eine zweite Runde.

Unterm Strich war die Finanzkrisen-Baisse eine Jahrhundert-Chance für alle Arten von Absicherungen und Baisse-Spekulationen. Nur hatten damals selbst alte Hasen kaum den Mut, diese Spekulationen auch mit aller Konsequenz durchzuziehen. Umso mehr, da die Angst einer Systemkrise umging. Verschärft wurde das mit dem teilweisen Verbot von Baisse-Spekulationen. In der Praxis hieß das: Selbst diejenigen, die etwa mit Puts auf Banken gut im Gewinn standen, hatten Angst, dass sie am Ende trotz richtiger Einschätzung ihr Geld doch nicht wiedersehen würden, weil der Handel mit den Derivaten unterbunden werden könnte.

Als große Gewinner erwiesen sich im Nachhinein diejenigen, die den Mut fanden, in den schwarzen Tagen 2008/ 2009 Aktien zu kaufen. Und wer schon nicht Aktien kaufte, der konnte sich wenigstens am Anleihemarkt hohe Zinsen holen. Doch auch da ging die Angst um. „Wollen Sie wirklich jetzt auf Unternehmensanleihen setzen?“ fragte mich mein örtlicher Bankberater bei einem Termin im Herbst 2008. Selbst Jahresrenditen von sieben bis acht Prozent konnten ihn kaum umstimmen. Hellhörig wurde er erst, als ich ihm mit einer Gegenfrage kam: „Glauben Sie wirklich, dass Unternehmen wie Daimler, BASF oder BMW pleitegehen?“ – Selbst wer sich in der Hektik der Finanzkrise nicht an Aktien wagte, konnte mit Anleihen großer Unternehmen auf Jahre hinaus gute Renditen erzielen.

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