Tauchsieder
Vorne wartet der Eisberg, doch auf der Kommandobrücke kümmert das keinen Quelle: Interfoto

Bis die Realität die Schiffswand einreißt

Der Eisberg ist schon in Sichtweite, und auf der Berliner Kommandobrücke wissen sie längst: Das geht nicht gut. Trotzdem genehmigt die Regierung den Deutschen noch immer Realitätsferien. Das geht erst recht nicht gut.

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Die Furcht der Regierenden vor einem vernunftaversen Volk ist so alt wie die Demokratie selbst. Platon und Polybios etwa sahen Gemeinwesen in Verfassungskreisläufen gefangen und nach einer idealistischen Gründungsphase zunächst in oligarchische Dynastien zerfallen. Sei der Staat aber einmal infiziert vom „unersättlichen Streben nach Reichtum“, so argumentierten die alten Griechen, würden Werte, Normen und Tugenden so lange auf dem Altar des Erfolgsstrebens geopfert, bis allen Bürgern zuletzt alles erlaubt sei – mit der Folge, dass sich der Pöbel am „ungemischten Wein der Freiheit“ berauscht und die „Regierenden bestraft, wenn diese nicht nachgiebig sind und in reichem Maße Freiheit gewähren“. Am Ende, so Platons Generalkritik, herrschten zügellose Gleichgültigkeit und gleichgültige Zügellosigkeit, ein ruinöses Geben und Nehmen. Und Regierende und Regierte würden sich nurmehr wechselseitig loben und ehren für ihre Freigebigkeit und ihr Gewährenlassen.

Oder nehmen wir Alexis de Tocqueville (1809 - 1859). Der Nestor der Vergleichenden Politikwissenschaft fürchtete im Advent der modernen Demokratie nichts mehr als ihre wortwörtliche Realisierung, also die Herrschaft des Volkes, die „Tyrannei der Mehrheit“. Tocqueville warnte daher nicht nur vor der „Neigung der Demokratie, in der Politik mehr Gefühlen als Überlegungen zu gehorchen und einen lange gereiften Plan der Befriedigung eines augenblicklichen Wunsches aufzuopfern“. Er radikalisierte auch Platons Grundgedanken, Regierende und Regierte könnten sich in einer Demokratie nurmehr im Modus der Nachsicht begegnen, verhielten sich affirmativ zueinander, bildeten eine sich selbst beweihräuchernde Applausgemeinschaft: „Die Mehrheit lebt in andauernder Selbstbewunderung.“ Andauernd – das ist wichtig. Denn anders als Platon, der in Peripetien dachte und eine faulende Demokratie notwendig in ein Volkstribunat umschlagen sah (Donald Trump!), war Tocqueville davon überzeugt, dass eine Demokratie im modernen Wohlfahrtsstaat  Gefahr läuft, sich gleichsam ad infinitum zum Schlechten hin zu nivellieren: „Die demokratischen Institutionen rufen den Gleichheitstrieb wach und schmeicheln ihm, ohne ihn doch jemals befriedigen zu können“ und versetzen „den sozialen Körper in eine Art Verwaltungsschlummer“.

Womit wir auch schon beim Tankrabatt wären, bei der „Mobilitätsprämie“ und bei der Energiepreispauschale für alle (300 Euro). Die drei Maßnahmen sind Teil der zwei rund 30 Milliarden Euro schweren „Entlastungspakete“, die die Regierung am 23. Februar und 23. März des Jahres beschlossen hat, also ein Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine und einen Monat danach. Alle, aber auch wirklich alle Ökonomen des Landes finden sie zu wenig zielgenau. Sie kritisieren eine Gießkannenpolitik, die nicht primär an den Bedarfen der Schwächsten orientiert ist, manche Gruppen überhaupt nicht adressiert (Energiepreispauschale nur für alle Einkommensteuerpflichtigen) – und in eklatantem Widerspruch zu überragenden, strategischen Zielen der Bundesregierung steht. Recht haben sie.

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Der Tankrabatt und die Erhöhung der „Pendlerpauschale“ etwa senden klar negative Preissignale an alle automobilen Verbraucher fossiler Brennstoffe: Die Maßnahmen fordern Arbeitnehmer nicht zum Kraftstoffsparen, zur Bildung von Fahrgemeinschaften oder zur Nutzung von Bussen und Bahnen auf, schon gar nicht Arbeitgeber zur Bezuschussung von ÖPNV-Tickets, E-Bikes und Home-Office-Lösungen. Sondern sie dotieren den status quo. Honorieren ein Weiter so. Finanzieren den Stillstand. Investieren ins Gestern. Verschwenden sich an die Vergangenheit.

Und die Deutschen? Mucken nicht etwa auf gegen die, die ihr Geld zum Fenster hinaus werfen. Sondern nehmen mit, was mitzunehmen ist, winken müde durch, was die Regierung einem Teil von ihnen vermeintlich schenkt: verwaltet schlummernd, schlummernd verwaltet. Weil die Deutschen aber von solcher Gemütsart sind, haben sie auch vorher nicht aufgemuckt, nichts zum Mitnehmen gefordert. Es war vielmehr die Regierung, die den Deutschen in den ersten sechs Monaten des Jahres laufend weisgemacht hat, sie könnten angesichts steigender Preise womöglich versucht sein aufzumucken, um das imaginierte Aufmucken der Deutschen ex ante politisch adressieren zu können.

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Wie nennt man so etwas? Entbirgt sich hier noch ein vorsorgender Sozialstaat, der sich als umfassende Versicherung individueller Lebenslaufrisiken versteht - oder haben wir es hier schon mit seiner Evolution zu tun, also mit einer Art präemptiven Freigebigkeit, mit einer präventiven Lebensstandardsicherung für alle – über alle Kriege und Krisen hinweg?

Natürlich, demokratische Regierungen zeichnen sich im Sinne Platons vor ihrem Volk nicht dadurch aus, dass sie Probleme lösen – sondern dadurch, dass sie Probleme kenntlich machen, um sich ihm permanent als Bearbeiter der Probleme empfehlen zu können. Das ist das Eine. Aber müssen die Regierenden jetzt auch noch Probleme erfinden (ein aufmuckendes Volk), um tatsächliche Probleme (die Finanzierung von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine, der Klimawandel, die Mobilitätswende) ohne Not zu verschärfen?

Beim Versuch einer Antwort auf diese Frage ist man inzwischen versucht, eher den Regierenden als den Regierten eine Vernunftaversion zu attestieren. Die Politiker, nicht die Bürger, sind die Impulsgeber im platonischen Lob-und-Preis-Spiel um Freigebigkeit: Sie eilen allen möglichen Geben-und-Nehmen-Wünschen voraus und verstehen sich als zielgruppen-orientierte Cateringunternehmen (bloß kein Tempolimit, bloß keine Atomkraft), um für eine Bestrafung an der Wahlurne nicht mehr erreichbar zu sein. Und sie opfern der tocquevillschen Befriedigung fiktiver Augenblickswünsche (Entlastung aller Autofahrer!) dabei nur zu gern auch lange gereifte Pläne (Mobilitätswende).

Aber das ist noch nicht alles. Viel schwerer wiegt, dass die Regierenden mit ihrer fiskalpolitischen Prophylaxe in einem welthistorisch entscheidenden Moment Sorglosigkeit zugleich annoncieren und camouflieren. Annoncieren, das heißt: Bundeskanzler Olaf Scholz erweckt seit vier Monaten den Eindruck, er habe die „Zeitenwende“ vor allem deshalb ausgerufen, um den Deutschen als Kanzler erscheinen zu können, der sie ihnen (wirtschafts-)politisch möglichst erspart. Er hat Russland widerwillig und überhaupt erst seit den EU-G7-Nato-Gipfeln als Feind des Westens markiert und sucht selbstbestimmte Einsparwege aus der Energieabhängigkeit von Russland erst, seit Putin uns nicht nur mit atomarer Vernichtung droht, sondern auch Gaslieferverträge verletzt. Bis dahin hieß es, Stichwort Tankrabatt: Volle Kraft voraus – der Eisberg wird sich schon noch rühren. Und die meisten Deutschen wollen bis heute gern glauben, dass keine Kursänderung nötig ist. Warum auch – solange die Regierung ihnen Realitätsferien auf der Titanic genehmigt?   

Die Regierenden auf der Kommandobrücke nehmen seit Wochen Luftschlossurlaub

Und damit sind wir beim Camouflieren politischer Sorglosigkeit. Denn auch die Regierenden auf der Kommandobrücke nehmen seit Wochen Luftschlossurlaub, aller Betriebsamkeit zum Trotz, die im Fall des Wirtschaftsministers etwa im Turbobau von Flüssiggasterminals, im Bekenntnis zur Kohleverstromung und einer eng getakteten Energiediplomatie ihren Ausdruck findet. Es ist fast schon komisch, dass die Absage eines weiteren Entlastungspakets in diesem Jahr ausgerechnet mit dem Ausrufen der „Gas-Alarmstufe“ zusammenfällt – und das Pochen auf die Einhaltung der Schuldenbremse 2023 mit einem Preisschock, der die Gasverbraucher in den nächsten beiden Wochen erreichen wird.

Anders gesagt: Just in dem Moment, in dem die Deutschen merken, dass eine Kollision mit dem Eisberg unvermeidbar geworden ist, tun sie auf der Kommandobrücke so, als sei nichts weiter zu tun – das Geld ist alle, sorry, rette sich, wer kann! Dabei wären jetzt (!) gezielte (!) Einsparprämien an das eine Fünftel oder Viertel der besitzlosen Deutschen gefragt, gern auch auf Kosten der Übrigen: Würden sich Regierende und Regierte hinter einer klar auf Putins (Wirtschafts-)Krieg (gegen Europa) bezogenen Subvention und Solidarleistung versammeln, dürfte (und würde) sich die Mehrheit dafür gern auch ein bisschen bewundern (können): zum Wohl der Demokratie und aus Einsicht in die Zeitenwende. Aber wir ahnen bereits, dass die Regierung das Problem auf andere Weise lösen möchte. Scholz trommelt am Montag Arbeitgeber und Gewerkschaften zu einer „Konzertierten Aktion“ zusammen, um den Tarifpartnern eine Einmalzahlung abzuverhandeln, die in etwa dem erwartbaren durchschnittlichen Anstieg der Gasrechnung entsprechen wird: eine abermals zielungenaue „Kompensation“ – diesmal noch dazu fremden Taschen entwendet?

Vielleicht ist das der große Unterschied zur traditionellen Demokratiekritik seit Platon: Es ist heute nicht mehr nur so, dass die Regierenden den Regierten nicht trauen und deshalb institutionelle Vorkehrungen treffen, um die repräsentative Demokratie gegen die Volksherrschaft abzusichern. Sondern es ist vor allem so, dass die Regierenden den Regierten nichts mehr zutrauen, schon gar nicht die Einsicht in die Genese, Verschleierung und Dramatik von Problemlagen – mit der Folge, dass die Regierenden meinen, sich immer mehr zutrauen zu sollen und sich anmaßen, die Bürger am besten durch Eisgebirgslandschaften lotsen zu können – so lange, bis die Realität die Schiffswand einreißt.

Nehmen wir Walter Eucken (1891 - 1950), Wilhelm Röpke (1899 - 1966), Alexander Rüstow (1885 - 1963) und Friedrich August von Hayek (1899 - 1992). Der kanadische Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian hat in einem akribisch recherchierten Buch über die weltpolitischen Ordnungsvorstellungen der Neoliberalen nachgezeichnet und gezeigt,  dass die vier „Globalisten“ sich vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden gegen die „Demokratisierung der Welt“ (Eucken) und die „rabies democratica“ (Röpke) gewendet haben, um die Sphäre einer regelbasierten Welt-Wirtschaft (und die Interessen des Kapitals) gegen die „Tollwut der Volksherrschaft“ zu verteidigen.

Klingt skandalös? Ja, die Neoliberalen fürchteten „die Völker und ihre Leidenschaften, die Interessentengruppen und chaotischen Kräfte der Masse“ (Eucken): altgeistesadlige Pöbelfurcht. Aber sie warnten auch vor einer „unbegrenzten“ Demokratie (Hayek), die zur „Beute“ von Interessengruppen degeneriere (Rüstow). Und sie warnten vor einem „pluralistischen Parteienstaat“, der Gefahr laufe, „nicht aus Stärke und Kraft, sondern aus Schwäche ‚total‘“ zu werden: weil ihm die Tendenz innewohne, „in alle Lebensgebiete“ zu intervenieren, nurmehr „die Ansprüche aller Interessenten (zu) erfüllen“ (Hayek).

„Aus Schwäche total“ - mit diesem Verdikt treffen die alten Neoliberalen gleich dreifach ins Schwarze. Weil die Regierenden die Kraft fehlt, eine großzügige Sozialpolitik entschieden auf Bedürftige zu beschränken. Weil ihnen der Mut fehlt, den Regierten reinen Wein über erwartbare Wohlstandsverluste in den nächsten Jahren einzuschenken. Und weil die ideelle Behebung des „Demokratiedefizits“ unabhängiger und nicht-majoritärer Institutionen wie der Notenbanken – genauer: die Politisierung ihres geldpolitischen Auftrags - die europäischen Demokratien nicht etwa stärkt, sondern vollends zu ruinieren droht.

Christian Lindner träumt immer noch von der Einhaltung der Schuldenbremse im nächsten Jahr, obwohl die Ausstattung der Bundeswehr und das Erreichen der Klimaziele, der Marshallplan für die Ukraine und die steigenden Zinslasten, eine drohende Rezession und eine beschleunigte Schubumkehr bei der Energieversorgung diesem Ziel schon heute Hohn sprechen. Robert Habeck geht immer noch davon aus, dass ausreichend Arbeiter und Handwerker all die gewünschten Wärmepumpen, Gleisbetten, Rotorblätter, Glasfaserleitungen und Schulgebäude bauen, fertigen, montieren können, damit die Digital-, Bildungs-, Energie- und Klimawende gelingt – obwohl die einfache Renovierung einer Hausfassade schon heute drei Monate dauert. Olaf Scholz hält noch immer die Rente für sicher – obwohl die Demografie ihn widerlegt: Unternehmen laufen in ein Jahrzehnt der „demografischen Wachstumsschwäche“ hinein, werden mit stark erhöhtem Lohn-, Produktivitäts- und Wettbewerbsdruck zu kämpfen haben. 

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Und natürlich, last but not least: EZB-Chefin Christine Lagarde entfernt sich immer weiter vom geldpolitischen Auftrag der Europäischen Zentralbank, die Preise stabil zu halten, weil insbesondere hoch verschuldete Staaten die Inflation benötigen, um ihre Schulden abzuschmelzen - koste es die Verbraucher, was es wolle. Zu den Folgen des inzwischen rettungslos politisierten Tuns der Notenbanken gehört, dass die massive Umverteilung von unten nach oben sich fortsetzt und verschärft, weil die EZB mit ihrer (Rettungs-)Politik die Vermögenspreise (halbwegs) stabilisiert und weil die Armen überproportional von Preissteigerungen betroffen sind.

Zu den weiteren Folgen gehört, dass die Armen nicht mehr gut von ihrem Lohn leben können und deshalb vermehrt Ansprüche anmelden beim Staat, dass derselbe Staat sich dann nur zu berufen fühlen dürfte, Mieten und Energierechnungen teilweise zu begleichen, weil es ein „Recht auf Wohnen und Heizen“ gibt - und dass das alles auf Kosten der Eigentümergesellschaft geht, also der erweiterten Mittelschicht, die noch Steuern zahlt und die sich angesichts steigender (Krankenkassen-)Beiträge und Lebenshaltungskosten bei gleichzeitig sinkenden Leistungen und Niveaus aufgerufen fühlen wird, ihrerseits Ansprüche anzumelden...

Das alles kann noch eine Weile gut gehen. Aber das alles kann nicht mehr lange gut gehen. Unsere Demokratie und Marktwirtschaft werden in diesen historisch entscheidenden Monaten nicht nur von Putin herausgefordert. Sondern auch von uns selbst. Wir sehen uns dem Eisberg nähern. Und halten Kurs. Wir simulieren Normalität. Und steuern in die nachhaltigste Wohlstandskrise seit dem Zweiten Weltkrieg – volle Kraft voraus.

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