Mehr Fortschritt wagen – für viele Unternehmen klang das Motto über dem 177-seitigen Koalitionsvertrag auch wie eine Bedrohung. Denn wer die Wahlprogramme der drei Parteien gelesen hatte, musste für manche Branchen wie etwa die Luftfahrt weitere Belastungen über die Einbrüche durch die Coronakrise hinaus erwarten.
Tatsächlich ergibt ein Blick durch das Programm der künftigen Regierung ein differenziertes Bild. Während sich für die Energiebranche mit dem vorgezogenen Kohleausstieg größere und schmerzhaftere Veränderungen ergeben, herrscht beim Gros der Unternehmen wie bei den Fluglinien Erleichterung. „Damit können wir sehr gut leben“, so ein führender Manager der Airlinebranche. Ein Blick auf die verschiedenen Branchen – und womit sie jetzt rechnen:
Energieversorger
Für den Versorger RWE birgt der Koalitionsvertrag kaum Überraschungen. Dass der „beschleunigte“ Kohleausstieg für 2030 avisiert wird statt für 2038, durch den Zusatz „idealerweise“ auch ein Stück weicher gezeichnet, entspricht in etwa der Gemengelage der vergangenen Wochen – und darauf hat sich RWE eingestellt. In einem Interview hatte RWE-Chef Markus Krebber schon vor Wochen gesagt: „Ein Kohleausstieg 2030 ist machbar – wenn wir das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien gewaltig erhöhen und viele zusätzliche Gaskraftwerke bauen“. Dazu hatte er allerdings Bedingungen formuliert: zusätzliche Hilfen für die soziale Abfederung der Mitarbeiter im Rheinischen Revier, Investitionen in Netze und Speicher. Die Ampel lehnt im Koalitionsvertrag nun zusätzliche Kompensationszahlungen an die Betreiber von Kohlekraftwerken ab, scheinbar kategorisch. „Unser Ziel ist es, im Rahmen des Kohleausstiegs ergänzend zu den bisher im Gesetz zugesagten Leistungen an Kommunen keine zusätzlichen Entschädigungen an Unternehmen zu zahlen“, heißt es. Aber „Ziele“ können sich auch ändern oder leider nicht ganz erreicht werden. Auch hier, das deutet die Wortwahl an, ist noch Luft nach oben.
Definitiv entgegenkommen will die Ampel den Beschäftigten. „Die flankierenden arbeitspolitischen Maßnahmen wie das Anpassungsgeld werden entsprechend angepasst und um eine Qualifizierungskomponente für jüngere Beschäftigte ergänzt. Niemand wird ins Bergfreie fallen.“ Dass durch einen frühzeitigen Ausstieg die fünf Dörfer Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Beverath im Braunkohlegebiet Garzweiler II endgültig gerettet sind, dürfte auch RWE gut verschmerzen können. So bleiben dem Konzern weitere PR-Schlachten erspart, die an seinem neo-grünen Image kratzen.
RWE-Chef Krebber kommen SPD, Grüne und FDP in einem anderen Punkt entgegen: Dem klaren Bekenntnis zum Ausbau der Erdgas-Infrastruktur. „Wir beschleunigen den massiven Ausbau der Erneuerbare Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken“, heißt es. Gaskraftwerke werden als „notwendig“ für die Zeit bis zur „Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien“ beschrieben, freilich mit dem Zusatz, dass sie „H2-ready“, also jederzeit auf grünen Wasserstoff umrüstbar sein müssen.
Für die Industrie ist das kein Problem. Im Gegenteil. Gelingt es der Politik nicht, die nötige Wasserstoffinfrastruktur bis zum Ende des Jahrzehnts zur Verfügung zu stellen, macht sie einfach weiter mit Erdgas, die Verantwortung liegt bei der Regierung. Rein praktisch wird eher die Finanzierung der Gaskraftwerke interessant, denn die Botschaft lautet ja: Wir brauchen Gas, aber nicht lange. Wie attraktiv ist das für Investoren?
Dass die Ampel den Bruttostrombedarf für das Jahr 2030 auf 680 bis 750 Terawattstunden taxiert, kommt der RWE-Positionierung ohnehin entgegen, weil es die strategische Schlüsselstellung des Konzerns bei der Energiewende illustriert. Die Festlegung der Ampel auf schnellere Genehmigungsverfahren und eine Ausweisung von mindestens zwei Prozent der Landesflächen für Windräder, entspricht einer Forderung, die nicht nur RWE, sondern die gesamte Energiebranche seit Monaten erhebt.
Für den anderen deutschen Energieriesen, E.On, ist das Bekenntnis der Koalition zum Ausbau der Netze zentral. E.On hatte wenige Tage vor der Vorstellung des Koalitionsvertrags versprochen, bis 2026 rund 22 Milliarden Euro in den Ausbau seiner Netze investieren zu wollen, einen Großteil davon in Deutschland. Im Kern geht’s darum, die Netze fit zu machen für zusätzliche, auch kleine Stromproduzenten und für eine Leistungsfähigkeit zu sorgen, die auch zusätzliche erneuerbaren Energien aufnehmen kann. Damit soll das Netz insgesamt „smart“, heißt: digital werden. Das soll eine möglichst effiziente Regelung von Einspeisung und Verbrauch gewährleisten. Konkret nennt der Koalitionsvertrag sogar so genannte „Smart Meter“, also digitale Messgeräte. „Den Rollout intelligenter Messsysteme als Voraussetzung für Smart Grids werden wir unter Gewährleistung des Datenschutzes und der IT-Sicherheit erheblich beschleunigen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Gerade E.On-Chef Leonhard Birnbaum hatte hier zuletzt immer wieder auf seiner Ansicht nach ineffiziente Vorgaben in Deutschland hingewiesen, diese Kontaktpunkte in einem wahrhaft digitalisierten Netz in Deutschland zu installieren.